Zeitbild | Nr.12
Gen Z liebt Kafka!
Wer wüsste schon, wie er sich verhalten müsste, wenn er morgens, wie Kafkas Gregor Samsa in der Erzählung Die Verwandlung plötzlich in Gestalt eines Käfers aufwacht?
Nicht ohne Grund ist diese Erzählung besonders bei jungen Menschen beliebt. Mit der Figur des Gregor Samsa können sich viele identifizieren. Ihre plötzliche unerwartete Hilflosigkeit und Verlorenheit in der Welt spiegelt die Gefühlslage und Lebenssituation von sehr vielen Menschen der jungen Generation wider.
Von Käfern, Mäusen und Affen
Kafkas Werke handeln, von Verwandlungen, von Monstern der Bürokratie, von Abhängigkeiten und dem Kampf mit Autoritäten. Am Ende ist meist nicht ganz klar, wer oder was zu diesen verhängnisvollen Entwicklungen geführt hat. Kafka schildert eine unübersichtliche Welt, in der jeder Mensch letztlich auf seine ganz eigene Art verloren ist.
In der heutigen Welt multipler Krisen trifft Kafkas Werk einen Lebensnerv der Gen Z. Die berühmte Gen Z – geboren von etwa 1995 bis 2010 – wächst im Krisenmodus auf: Corona-Pandemie, Krieg, Klimawandel – vielschichtige Bedrohungen, die verständlicherweise ein Gefühl des Unwohlseins und des Ausgeliefertseins bis hin zur Hilflosigkeit hervorrufen. Wie soll man als Individuum mit diesen globalen Krisen umgehen oder nach Lösungsmöglichkeiten suchen?
Kafka und multiple Krisen der Gegenwart
Der Jurist und Versicherungsangestellte Kafka wird zum Star auf Social Media
In dieser sozialen Entwicklungssituation hat die Gen Z in Verbindung mit dem 100 Jahre-Rummel um Kafka, den einst als eher sperrig geltenden Literaten, neu für sich entdeckt. Seine Reflexionen über die Absurdität des Seins verarbeitet sie in den Medien, die ihr seit frühester Jugend vertraut sind: Dem Internet und den sozialen Netzwerken. Dort sammeln sie Meinungen und Informationen und teilen ihre Gefühle. Sie verbinden Offline-Erfahrungen nahtlos mit der virtuellen Welt.
Sehr häufig kommen die Reels und Posts mit Kafka-Zitaten naiv, oberflächlich und klick orientiert daher. Darunter finden sich aber auch tausende Kommentare, die zum Nachdenken anregen. In Kafkas Weltsicht erkennen viele ihre eigene wieder, fühlen sich verstanden und vor allem einer sinnhaften Community zugehörig.
Das erklärt, warum der Jurist und Versicherungsangestellte Kafka auf einmal zum TikTok-Star avancierte. Unter dem Hashtag #Kafka gab es über 137 Millionen Aufrufe.
Das Kafka-Jahr ist jetzt zwar vorbei, doch Kafka selbst bleibt im Gespräch. Junge Menschen haben Franz Kafka, einen Autor, der seit 100 Jahren tot ist, auf Social Media für sich entdeckt. Gen Z liebt Kafka!
Kafkaesk
Allerdings ist digitale Welt von Social Media selbst zu einem unübersichtlichen bedrohlichen Ort voller Widersprüche, Desinformation und dirty tricks geworden. Die Anfangseuphorie des world wide web als Ort der respektvollen, verantwortungsvollen demokratischen freien Diskussion in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft ist längst unter die Räder gekommen. Kafka würde mit der literarischen Verarbeitung dieser Absurditäten und unkontrollierten Auswüchsen der digitalen Welt weitere hundert Jahre beschäftigt sein. Das wäre dann kafkaesk.