Privater Kunstblog zum Thema:

Künstlerisches Handeln in Zeiten globaler Umbrüche


Die Welt von heute scheint aus den Fugen geraten. Sie ist durch große Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Fragilität, Krieg und Flucht, Terror und Gewalt geprägt. Damit ist die Entwicklung unserer zukünftigen Lebenswelten wieder zu einem bedeutsamen Schwerpunkt in der Kunst geworden. Auch die Erkenntnisse und Prognosen der Techniksoziologie und der Zukunftsphilosophie werden zunehmend als Gegenstand der Kunst entdeckt. Die bildende Kunst, das Theater, die Literatur und der Film reagieren darauf auf unterschiedliche Art und Weise. Mich beschäftigt die Frage, wie kann sich der Künstler, der ja Teil dieser Entwicklungen ist, den sich daraus ergebenden existentiellen Herausforderungen sinnvoll nähern? In diesem Zusammenhang möchte ich meine Bilder aus der Zeit um 5 nach 12 in lockerer Folge vorstellen. Texte zu den globalen Auswirkungen des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ergänzen diese bildlichen Darstellungen. Über Reaktionen von Künstlern, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen, würde ich mich freuen.


Samstag, 23. Juli 2022

Gewaltig unauffällig - Bernar Venet in Berlin

Eigentlich wollte Venet so lange nicht wieder nach Berlin kommen, wie die umstehenden Bäume den freien Blick auf seine Skulptur Arc de 124,5°“ oder Bogen von 124,5° an der Urania in Berlin-Schöneberg behindern.

In diesem Jahr hat es sich der französische Bildhauer und Konzeptkünstler anders überlegt. Anlässlich der Eröffnung der bisher größten und umfangreichsten Retrospektive (29.01.-30.05.2022)  von über 150 seiner Werke in den großen Hangars 2 und 3 des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof erschien Venet persönlich und brachte in einer Performance eine Kette von Stahlbögen mit einem Gewicht von über 30 Tonnen unter ohrenbetäubendem Lärm zum Einsturz. Hier ein Video von der Performance, das auf der Original-Website des Veranstalters zu sehen ist. Mit dem Titel: BERNAR VENET - Domino Collapse | Kunsthalle Berlin - Flughafen Tempelhof.

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Die Skulptur Arc de 124,5° oder Bogen von 124,5° an der Urania in Berlin-Schöneberg



Zunächst aber zurück zum Arc de 124,5 um den es in meinem Post schwerpunktmäßig geht. Venet schuf diese Skulptur als Auftragsarbeit speziell für diesen Ort. Es handelt sich um ein Geschenk Frankreichs an Berlin anlässlich der 750-Jahr-Feier der Stadt, das in Anwesenheit des damaligen französischen Premierministers Jacques Chirac 1987 offiziell übergeben wurde. Die Skulptur stellt symbolhafte Bezüge zu dem damals noch geteilten Berlin her. Insbesondere bezieht sich die Bogenform auf die Luftbrücke der Alliierten während der Berlin-Blockade von Juni 1948 bis Mai 1949. Anschließend fiel das Kunstwerk der Vergessenheit anheim. Es wurde durch Graffitis verunziert, Grün wucherte rundherum.

Bernar Venet ist ein französischer Bildhauer und Konzeptkünstler und gilt als einer der international herausragenden Bildhauer der Gegenwart. Seine Stahlskulpturen sind in vielen internationalen Museen, Privatsammlungen und im öffentlichen Raum vertreten.

Im Frühjahr, wenn die Bäume noch nicht belaubt sind, hat man noch einen einigermaßen guten Blick auf das Kunstwerk.  „Dargestellt ist ein Kreisbogen von 124,5°. Der Titel der Skulptur entspricht also exakt der geometrischen Form. Das Kunstwerk besteht aus geschweißten, schwarz lackierten Stahlplatten. Es hat eine Spannweite von 40 Metern, eine Höhe von 12 Metern und ein Gewicht von 15 Tonnen. Gehalten wird es von einem in die Erde eingelassenen, 100 Tonnen schweren Betonblock.“ (1)


Kunst oder Baum? - Das ist hier die Frage. 

Das Problem für Venet besteht nun darin, dass im Sommer von den üppig belaubten Bäumen auf dem Grünstreifen der Blick auf den Bogen größtenteils verdeckt ist. Die Skulptur fällt mittlerweile nur noch ins Auge, wenn man ganz genau hinschaut. Das möchte der Künstler ändern und hat sich deshalb an die Berliner Senatskanzlei gewandt. Venet fordert die Fällung der Platanen und bietet Ausgleichspflanzungen an. Natur gerät ausnahmsweise mal nicht mit Wirtschaftsinteressen, sondern mit der Kunst aneinander. Doch hier geriet Venet in die Mühlen der Berliner Verwaltung. Denn in Berlin ist die Verwaltung in den Zuständigkeiten zweigeteilt. Der Senat landesweit auf der einen und die Bezirke regional auf der anderen Seite. In diesem Verhältnis kommt es sehr häufig zu Konflikten.

Im Sommer 2022 mit belaubten Bäumen  aufgenommen, zeigt das Foto deutlich die Sichtbehinderungen auf die Skulptur


Ein heftiger Streit entbrennt. 


Auf die Einzelheiten dieser Debatten möchte ich nicht näher eingehen. Das wäre in Bezug auf das Kernthema meines Blogbeitrags zu kleinteilig. Deshalb nur soviel:  

Für die Bäume ist der Bezirk und nicht der Senat zuständig. Es erfolgte zwar auf Bezirksebene gegen die Stimmen von Grünen und Linken ein Beschluss, dass bis zu sieben Platanen und eine Linde fallen sollen, um das Kunstwerk des französischen Künstlers Bernar Venet besser sichtbar zu machen. Aber der heftige Streit ging weiter und gipfelte in der Frage: Darf man im Jahr 2019, im zweiten Hitzesommer in Folge und angesichts der aktuellen Sorgen um das Weltklima, tatsächlich noch auf die Idee kommen, Hand an auch nur einen einzigen Baum zu legen?

Das Vorhaben wurde vorerst gestoppt. Die Platanen bleiben erst mal stehen. Der Konflikt ließe sich ohne Motorsäge im Gespräch mit Venet eventuell entschärfen, indem man die Skulptur woanders mit freiem Blickfeld aufstellt, wo sie besser zur Geltung kommt.  

Das Kunstobjekt erhebt sich auf einem begrünten Mittelstreifen zwischen zwei stark befahrenen Hauptverkehrsstraßen in Höhe des Wissenschafts- und Kulturzentrums Urania, das im linken Bildhintergrund mit den farbigen Bannern zu sehen ist.


Was ist von dem Vorhaben und Venets Wünschen noch übrig? 


Übrig ist ein gesteigertes Interesse daran, wie wir mit vernachlässigter Kunst umgehen, lautet ein Statement der Politik. Das darf stark bezweifelt werden. Angesichts der zahlreichen lieblos behandelten öffentlichen Skulpturen in Berlin ist es hochgradig wahrscheinlich, dass man Venets Bogen im üblichen Berlin-Style für den Umgang mit Kunst im öffentlichen Raum einfach still und leise weiter vergammeln lässt.

Vielleicht hat Venet aber die für ihn konzipierte und bislang umfangreichste Werkschau weltweit etwas mit Berlin versöhnt.

Von Bogen zu Bogen. Temporäre Konkurrenz.
Dieser Anblick würde Venet sicherlich auch nicht gefallen. Im Gegensatz zu den Platanen verschwinden die Wasserleitungen aber irgendwann. Irgendwann kann in Berlin aber auch sehr lange dauern.


(1) Quelle: Mathematischer Ort des Monats August 2018 / „Arc de 124,5°“ an der Urania in Berlin-Schöneberg von Iris Grötschel aus der Website von Berliner Mathematische Gesellschaft e.V.   

Weiterführende Links:

Bernar Venet im Interview und bei der Arbeit. Ein Beitrag der Deutschen Welle (DW) auf youtube.

Über das Projekt BERNAR VENET, RETROSPEKTIVE
60 JAHRE PERFORMANCE, BILDER UND SKULPTUREN. 1961–2021.
Die Original-Website des Veranstalters  Stiftung für Kunst und Kultur, Bonn mit ergänzendem Bildmaterial

Blicke in die Ausstellung im Flughafen Tempelhof vom 29. Januar bis 30. Mai 2022 aus der offiziellen Berliner Website berlin.de

Infos zur Urania in Berlin-Schöneberg auf deren Original-Website

Sämtliche Fotos: Fred Tille