Damals oder heute?
„Alle hatten nur einen einzigen
Wunsch: abfahren. Alle hatten nur eine einzige Furcht: zurückbleiben.
Fort, nur fort aus diesem zusammengebrochenen Land, fort aus diesem
zusammengebrochenen Leben, fort von diesem Stern!“
Wann und von wem könnten diese Sätze
geschrieben worden sein? Von einem verzweifelten syrischen Vater, der
2014 mit seiner Familie über das Mittelmeer aus dem Bürgerkriegsland
fliehen muss? Oder von einem jungen Deutschen, der 1940 aus einem KZ
entflohen ist und auf der Flucht vor den Nazis in Marseille strandet?
Tatsächlich hat Anna Seghers diese Worte in ihrem Roman Transit
niedergeschrieben. Seit Erscheinen des Romans in der deutschen
Fassung 1948 sind 67 Jahre vergangen. Die elementaren Grundfragen,
die in diesem Werk gestellt werden, sind jedoch hochaktuell.
„Ich möchte gern einmal alles
erzählen, von Anfang an bis zu Ende.“ Transit – Der Roman von
Anna Seghers
In ihrem Roman schildert Seghers das
Schicksal von Flüchtlingen, die sich 1940/41 auf der Flucht vor den
Nazis in Marseille darum bemühen, im Dickicht der Behörden und
Vorschriften fristgemäß die Papiere für ihre Auswanderung nach
Übersee zu bekommen. Anna Seghers lässt einen Ich-Erzähler, dessen
Namen man nicht erfährt, einem stummen Zuhörer, den er in seine
Lieblingspizzeria in Marseille einlädt, rückgreifend von
seinen Erlebnissen berichten. Mit den Worten „Ich möchte gern
einmal alles erzählen, von Anfang an bis zu Ende,“ leitet er
seinen Monolog ein. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der
sich nach seiner Flucht aus einem französischen Arbeitslager im von
den Nazis besetzten Teil Frankreichs bis nach Marseille durchschlägt.
Auf dem Weg dorthin hält er sich einige Zeit im ebenfalls unter
Besatzungsstatus stehenden Paris auf. Dort bittet ihn ein ihm
zufällig begegnender Bekannter um einen Gefallen: Er soll einen
deutschen Schriftsteller namens Weidel aufsuchen und diesem einen
Brief seiner Frau überreichen. Doch als er bei Weidel eintrifft, hat
sich dieser in seinem Hotelzimmer bereits das Leben genommen und nur
ein unveröffentlichtes Romanmanuskript und ein mexikanisches Visum
zurückgelassen. Mit einem Pass auf den Namen Seidler und Papieren
des Schriftstellers Weidel, flieht der junge Mann weiter nach
Marseille. Dort begegnet er zufällig Weidels Ehefrau Marie, die auf
ihren Mann wartet, der ihr die Ausreisedokumente bringen wollte. Sie
will jedoch nicht mit Weidel, sondern mit ihrem Geliebten auswandern.
Der Flüchtling aus Deutschland verliebt sich in Marie und
verschweigt ihr den Tod ihres Mannes Am Ende bleibt der
namenlose Ich-Erzähler freiwillig im Land. Marie und ihr Geliebter
reisen ab – doch ihr Schiff geht unter und sie kommen auf dem Weg
in die erhoffte Freiheit ums Leben.
Ich-Erzähler und stummer Zuhörer:
Transit in der Box des Deutschen Theaters Berlin
Am 27.September 2014 hatte die
Theaterfassung von Seghers Roman Transit Premiere in der Box des
Deutschen Theaters Berlin. In einem Jahr, in dem die Zahl der
Mittelmeer-Flüchtlinge einen dramatischen Höchststand erreicht hat.
Am 01. Januar 2015 habe ich mir die Theateraufführung, in der
Thorsten Hierse den Ich-Erzähler spielt, angesehen. Die Rolle der
Marie wird von Wiebke Mollenhauer gespielt. Tobias Vethake begleitete
die Aufführung mit seiner Live-Musik. In der Inszenierung von
Alexander Riemenschneider wird der Roman in dramaturgisch sinnvollen
Auszügen textgetreu durch den Ich-Erzähler wiedergegeben. Der
intensive Vortragsstil von Thorsten Hierse verleiht der Darstellung
Authentizität und betont zugleich die Subjektivität der
Perspektive. Eindringlich schildert er das Chaos, das Warten, die
Hoffnung und die Verzweiflung der Flüchtenden – den
menschenunwürdigen Transitzustand, der auch heute für Millionen von
Menschen bittere Realität ist. Der Zuschauer kann sich in der Rolle
des stummen Zuhörers im Roman identifizieren. Nach einer Weile
glaubt man wirklich in der Marseiller Pizzeria zu sitzen. Wie im
Roman der Leser wird im Theater der Zuschauer als Gegenüber
behandelt, dem die Ereignisse als Dialog vorgetragen werden. Der
literarische Effekt der Unmittelbarkeit und Anteilnahme, den Anna
Seghers erreichen wollte, indem sie das Wort einem Ich-Erzähler
überlässt, kommt auch auf der Bühne voll zur Geltung.
Unwillkürlich tauchen bei der Schilderung des menschenunwürdigen
Transitzustands im Kopf des Zuschauers die aktuellen Bilder von
verzweifelten
Flüchtlingen auf, die in überfüllten
Booten über das Mittelmeer nach Europa kommen wollen. Diese
Aktualisierung findet allerdings nicht auf der Bühne statt. Nur im
Programmheft vermittelt eine zitierte Statistik des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge einen Gegenwartsbezug.
Marseille im Sommer 1940. Lampedusa
2015.
Marseille im Sommer 1940. Lampedusa
2015. Damals wie heute stauen sich am Rande des Kontinents die
Flüchtlingsströme. Tausende suchen 1940 einen Weg heraus aus Europa
und hoffen verzweifelt eine der wenigen Passagen nach Übersee zu
ergattern. Tausende Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsgebieten
Afrikas und des nahen Ostens versuchen 2015 ebenso verzweifelt eine
Passage über das Mittelmeer zu bekommen und suchen einen Weg hinein
nach Europa.
Das Flüchtlingsdrama ist eines der
brennendsten Themen für den alten Kontinent. Hunderttausende
Menschen drängen nach Europa. Sie entfliehen dem Elend ihrer Heimat.
Sie kommen aus Ländern wie Afghanistan, Eritrea, Libyen, Mali,
Somalia oder Syrien, in denen Kriege toben und Gefahr für Leib und
Leben droht. Europa ist für sie das Versprechen auf eine bessere
Zukunft. Doch viele kommen im vermeintlichen Paradies Europa nie an.
Die Fahrt über das Mittelmeer in überfüllten Barkassen endet
häufig tödlich. Eine europäische Flüchtlingspolitik existiert
nicht. Das wird deutlich, wenn Zuwanderer bewusst unregistriert von
einem Land zum andern weitergeschoben werden. Welche Menschlichkeit
zeigt eine Europäische Union, die nichts Fundamentales gegen diese
zynische Kriminalität der Schlepper auf Europas Straßen und Meeren
unternimmt, die täglich Menschen das Leben kostet?
Das Mittelmeer ist die tödlichste
Route der Welt für Flüchtlinge
„Mehr als 207.000 Menschen machten
sich in diesem Jahr auf den Weg nach Europa, das waren fast dreimal
so viele wie im bisherigen Rekordjahr 2011. Bei der gefährlichen
Überfahrt ertranken oder verdursteten 3419 Menschen, wie das
Flüchtlingshilfswerk UNHCR am Mittwoch mitteilte. Das Mittelmeer sei
damit zur "tödlichsten Flüchtlingsroute der Welt"
geworden.
Angesichts der dramatischen Entwicklung
rief UN-Flüchtlingshochkommissar António Guterres die Regierungen
der EU-Länder zum Kurswechsel auf. Für viele sei der Schutz der
eigenen Grenzen wichtiger geworden als das Retten von Menschenleben.
Die nationale Politik dürfe nicht dazu führen, dass Menschenleben
zu "Kollateralschäden" würden, sagte Guterres. Dies sei
umso wichtiger, da so viele Menschen zurzeit vor Kriegen fliehen
müssten. Die allermeisten Flüchtlinge steuerten Italien und Malta
an, wie das UNHCR weiter mitteilte. Die Behörden zählten demnach
unter anderem 60.000 Syrer und 34.500 Menschen aus Eritrea. Erst am
Mittwoch wurden wieder 400 Bootsflüchtlinge – die meisten von
ihnen aus Syrien – von einem spanischen und einem isländischen
Schiff aus dem Mittelmeer geborgen.“ (Quelle: Berliner Morgenpost /
11.12.2014)
"Das Theater muss die Fragen
stellen. Es muss sagen, was Sache ist"
Mit diesen Worten bezog die Leiterin
des Maxim Gorki Theaters Berlin in einem Interview der "Berliner
Zeitung" Stellung und betonte damit die Rolle des politischen
Theaters. "Menschen sterben vor den Grenzen der Europäischen
Union. Die Zivilgesellschaft muss einschreiten gegen die Europa
einmauernden Eliten", sagte die 1969 in der Türkei geborene
Theatermacherin, Shermin Langhoff.
Eine gewisse Aufnahmebereitschaft ist
notwendig
Shermin Langhoff fährt fort: "Wir
hatten einmal ein Asylrecht, weil Deutschland wusste, dass es Zeiten
gibt, in denen Menschen darauf angewiesen sind, irgendwohin fliehen
zu können... Heute werden an Europas Grenzen Kriege geführt. Es
gibt Menschen, die vor ihnen fliehen. Wir stellen uns hin und knallen
ihnen die Tür vor der Nase zu, schicken sie zurück in den Tod."
Ihrer Meinung nach sollte das Theater versuchen, die aktuelle Lage
dem Publikum so klar wie möglich vor Augen zu führen. "Wir
halten, das ist gute, alte Theatertradition, der Gesellschaft einen
Spiegel vor."
Zum Schluss möchte ich noch einmal
Anna Seghers Roman zu Wort kommen lassen: „Was konnte es einem
Riesenvolk schaden, wenn einige dieser geretteten Seelen zu ihm
stießen, würdig, halbwürdig, unwürdig, was konnte es einem großen
Volk schaden?“ (Quelle: Aufbau Taschenbuch, 2013, S. 196)
Fotos und Illustrationen: Fred Tille
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