Privater Kunstblog zum Thema:

Künstlerisches Handeln in Zeiten globaler Umbrüche


Die Welt von heute scheint aus den Fugen geraten. Sie ist durch große Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Fragilität, Krieg und Flucht, Terror und Gewalt geprägt. Damit ist die Entwicklung unserer zukünftigen Lebenswelten wieder zu einem bedeutsamen Schwerpunkt in der Kunst geworden. Auch die Erkenntnisse und Prognosen der Techniksoziologie und der Zukunftsphilosophie werden zunehmend als Gegenstand der Kunst entdeckt. Die bildende Kunst, das Theater, die Literatur und der Film reagieren darauf auf unterschiedliche Art und Weise. Mich beschäftigt die Frage, wie kann sich der Künstler, der ja Teil dieser Entwicklungen ist, den sich daraus ergebenden existentiellen Herausforderungen sinnvoll nähern? In diesem Zusammenhang möchte ich meine Bilder aus der Zeit um 5 nach 12 in lockerer Folge vorstellen. Texte zu den globalen Auswirkungen des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ergänzen diese bildlichen Darstellungen. Über Reaktionen von Künstlern, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen, würde ich mich freuen.


Dienstag, 30. September 2014

Twelve Years a Slave | Aktualisierung

McQueens Film „Twelve Years a Slave“ beruht auf der wahren Geschichte von einem freien Afroamerikaner, der zur Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs gekidnappt und versklavt wird. Zwölf lange Jahre hofft Solomon Northup, wieder aus der Gefangenschaft zu entkommen. Die Lebensgeschichte des Solomon Northup ist heute aktueller denn je. Sie ist eine Parabel darüber, was Macht über Menschen aus Menschen macht und führt direkt zur Tötung von George Floyd am 25. Mai 2020, der bei seiner gewaltsamen Festnahme minutenlang “I can't breathe” rief, als er auf dem Boden lag und ein Polizist auf seinem Hals kniete.

Steve McQueen als Wanderer zwischen den Künsten

Wenn ein bildender Künstler das Medium wechselt und zum Filmregisseur wird, sitzen die Kunstinteressierten und die Cineasten gespannt vor der großen Leinwand. Der Zuschauer zieht Vergleiche. Was macht der bildende Künstler anders oder besser als „Nur“-Filmregisseure. Gibt es Unterschiede in der Herangehensweise, welche Bilder sind einprägsamer? Steve McQueen ist ein bekannter bildender Künstler der zwischen Videokunst und Kinofilmkunst wechselt.


Kidnapped

Julian Schnabel ist ein weiterer prominenter Künstler, der sich als Filmregisseur betätigt hat. Schnabels zweiter Film, Before Night Falls (Bevor es Nacht wird), erhielt bei den Filmfestspielen in Venedig 2000 den großen Preis der Jury sowie die Coppa Volpi für Javier Bardem als bestem Darsteller. 2007 führte Schnabel bei seinem dritten Film, Le scaphandre et le papillon (Schmetterling und Taucherglocke), Regie. Sowohl beim Filmfestival in Cannes als auch bei der Verleihung der Golden Globes wurde der Film in der Kategorie „Beste Regie“ ausgezeichnet. Ein weiteres Beispiel: Sam Taylor-Wood ist eine britische Regisseurin, Fotografin, Künstlerin und Musikerin. Nach einigen Kurzfilmen gab sie 2009 mit der John-Lennon-Filmbiografie Nowhere Boy ihr Regiedebüt bei einem Spielfilm. Für 2015 ist die Verfilmung des Erotikromans Shades of Grey angekündigt.
Dabei fällt auf, dass es eben die Künstler unter den Filmkünstlern sind, die für starke überwältigende Bilder sorgen. Dabei rücken erfreulicherweise Kunst und Kino zunehmend zusammen. Im Gegenzug erscheint es schwieriger, Filmregisseure zu erwähnen, die in der bildenden Kunst ihre Spuren hinterlassen haben. Kultregisseure wie Lars von Trier, Jim Jarmusch, Peter Greenaway können zum Vergleich nicht herangezogen werden. Sie haben als Filmemacher selbst Künstlerstatus.
McQueen legte nun mit 12 Years a Slave (2013) seine dritte Regiearbeit vor. In meinem Post möchte ich den Schwerpunkt auf Steve McQueen als Wanderer zwischen beiden Künsten legen. Zunächst aber einige Bemerkungen zum Kinofilm.

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Twelve Years a Slave | Erfahrungsbericht von Solomon Northup

Alles fing damit an, dass Steve McQueen einen Film über die Sklaverei drehen wollte. Was ihm zunächst am meisten Probleme bereitete, war der Einstieg. McQueen hatte die Idee, einen freien Mann zum Protagonisten zu machen, der in den Nordstaaten gekidnappt und dann im Süden in die Sklaverei verkauft wird. Auf der Suche nach einem passenden Filmstoff stieß er eher zufällig auf den in Vergessenheit geratenen Erfahrungsbericht von Solomon Northup. Solomon Northup war ein Afroamerikaner, der als freier amerikanischer Staatsbürger von den Nordstaaten in die Südstaaten verschleppt und in die Sklaverei gezwungen wurde. Das Buch mit dem Titel "12 Years a Slave" fügte sich perfekt in den künstlerischen Ansatz von McQueen ein. 

Solomon Northup | Abb. Wikipedia | For Free Use

„Letztlich war es Schicksal“, betonte der Filmkünstler in einem Interview. Denn die Auswahl des Mediums ergibt sich bei Steve McQueen immer aus dem Stoff selbst. Aus seiner Sicht verlangt jede Thematik nach einer bestimmten Erzählweise. Auch sein Kinofilm Twelve Years a Slave folgt diesem inneren Prinzip.

Wanderer zwischen den Künsten

Steve McQueen, 1969 in London geboren, machte sich zunächst als bildender Künstler einen Namen und als bekannter Videokünstler gewann er 1999 den renommierten britischen Turner Preis. Im Jahr 2002 stellte er auf der Documenta aus. 2008 wechselte er dann von der Videokunst zur Filmkunst auf der großen Leinwand: Sein erster Spielfilm Hunger (2008) setzte auch in der Filmwelt ein Zeichen und mit Hunger, der von den letzten Lebenswochen des IRA-Häftlings Bobby Sands erzählt, gewann er auf Anhieb bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes die Camera d’Or für den besten Debütfilm. Nach seinem gefeierten Sexsuchtdrama Shame (2011) präsentiert McQueen nun mit 12 Years a Slave (2013) seine dritte Regiearbeit. Als Wanderer zwischen den Künsten fand er sich sehr gut zurecht und zeigte neue Wege auf, wie sich die unterschiedlichen Künste gegenseitig hervorragend ergänzen. McQueen hat dem Film und der zeitgenössischen bildenden Kunst, die sich politisch versteht, neue Impulse gegeben.

Gefangen

Über die Machtlosigkeit der Kunst

Seine Videoarbeit Western Deep, die er 2002 auf der Documenta in Kassel präsentierte, hatte ihm gezeigt, wie machtlos die Bildende Kunst sein kann. Der Film ist in der weltweit tiefsten Goldmine in Südafrika aufgenommen, die unter dem Apartheidregime noch «Western Deep» hieß. „Die ersten Minuten von Western Deep sind in Finsternis getaucht, auch gelegentlich hellere Sequenzen lassen kaum etwas klar … sehen. Allmählich werden unscharfe Gesichter und Gitterstrukturen erkennbar, bis man anhand der Helme und der Liftkabine begreift, dass die Kamera zusammen mit Minenarbeitern einen dunklen Schacht hinabfährt.“ (Quelle: Schaulager Basel) Ausbeutung und Unterdrückung prägen diese furchtbaren Arbeitsumstände. In Western Deep wird die unmittelbare Konsequenz dieser Verhältnisse für den Menschen in klaustrophobischer Enge und Isolation in der gefühlt unendlichen Tiefe der Erde in den Vordergrund gerückt. Nachdem er auf der Documenta in Kassel Western Deep vorgestellt hatte, erwartete McQueen nach eigenem Bekunden einen Aufschrei der Empörung. Doch es passierte nichts, absolut nichts. Vielleicht nahm der Künstler deshalb 2008 die Möglichkeit wahr, seinen ersten Kinofilm zu drehen, um damit ein größeres Publikum zu erreichen. 

 

Das Bild hat immer das letzte Wort


Der Wechsel des Mediums ist für den Künstler eine einzigartige Chance sein Wissen und seine Erfahrung aus der vorausgegangenen Arbeit als Videokünstler im anderen Filmgenre einzubringen. Diese Transformationen werden deutlich in der Art, wie er auf der Leinwand Räume schafft, mit subtilen Beobachtungen am Rande einer Filmszene die Wahrnehmung schärft oder den Ton einsetzt. Diese besondere Umsetzung des Filmstoffes hat dem Künstler große Anerkennung bei der Filmkritik eingebracht. „Denn Steve McQueen erzählt durch den Körper. Jede Gefühlsregung, jeder Schmerz, jedes Quäntchen Glück ist darin abgelagert. Handwerkliche Virtuosität verbindet sich hier mit größtmöglicher Unmittelbarkeit der Bildsprache.“ (Quelle: Art Magazin 9/14, onlineversion, Gerhard Mack). Das sieht der Zuschauer auch ganz deutlich in 12 Years a Slave. Allein die per Handkamera gedrehte Szene, die die Auspeitschung einer Sklavin zeigt, belegt die schon angesprochene künstlerische Transformation. Ein weiteres Beispiel: Solomon Northup hatte sich als Violinist einen Namen gemacht und diverse lukrative Engagements großer Hotels und Varietés erhalten. Bei einem dieser Engagements, das ihn nach Washington, D.C. führte, wurde er von seinen weißen Auftraggebern betrogen, gekidnappt und in Washington gefangen gehalten bis er von Menschenhändlern nach New Orleans und von dort aus ins ländliche Louisiana verschleppt wird, wo er zwölf Jahre seines Lebens als Sklave unter geändertem Namen zu Arbeiten auf verschiedenen Farmen gezwungen wurde. Diese Gefangenschaft in Washington, D.C schildert er im Film in einer besonders beeindruckenden Einstellung. 

Der Schrei

In einem einzigen Zoom zieht McQueen die Kamera aus dem inneren des Gefängnisses, durch die vergitterten Fenster ins Freie, geht mehr und mehr in die Totale und endet im Schwenk mit einem Blick auf das Weiße Haus, das in der Großeinstellung nur einen Fußweg vom Gefängnis entfernt liegt. Besser und eindringlicher kann man die Tragödie zwischen Freiheitssymbol und Sklaverei in einer einzigen Szene nicht darstellen. Das Publikum kann ab diesem Zeitpunkt die Geschichte der Verschleppung und Versklavung ganz konkret miterleben. Gemeinsam werden Solomon Northup und die Zuschauer in dieses Labyrinth der Sklaverei versetzt und müssen sich dort zurechtfinden. 

Lynching Tree und Twelve Years a Slave


Als Wanderer zwischen den Künsten arbeitet McQueen parallel. Das Leuchtkastenfoto Lynching Tree zum Beispiel ist ein Ergebnis seiner Recherchen für seinen Film Twelve Years a Slave. In Twelve Years a Slave bezieht sich McQueen ausdrücklich auf dieses Werk, das im Zusammenhang mit der Recherche zum Film entstanden ist. Lynching Tree zeigt einen Ort, der Schauplatz einer grausamen Vergangenheit ist. Zu sehen ist ein Baum in der Nähe von New Orleans, an dem früher Sklaven erhängt wurden. Am Boden um den Baum herum befinden sich Gräber der Gelynchten. Im Film wird diese Fotografie zum Ausgangspunkt einer der eindringlichsten filmischen Einstellungen. Gezeigt wird wie Northup nach einem Fluchtversuch über sehr lange Zeit mit einer Schlinge um den Hals nur auf den Zehenspitzen stehend an einem Baumast aufgehängt wird. Würde er einknicken, wäre es sein sicherer Tod. Im Verlauf der Zeit zeigt McQueen wie im Hintergrund des Bildes die Mitsklaven nach und nach erscheinen und ihren erzwungenen Tätigkeiten nachgehen, ohne auf den Gepeinigten zu achten. Eine verdichtete Szene, die in ihrer dramaturgischen Eindringlichkeit auch auf einer Theaterbühne spielen könnte. Hier hat das Bild im Sinne des französischen Philosophen Jacques Derrida tatsächlich das letzte Wort. 

Auf der Plantage

Das Leiden der Mitmenschen zeigen 

In seinen Filmen und Videos geht es um Einsamkeit, Gewalt, die Schattenseiten unserer Existenz und um das Sehen in anderen Mustern. Die Kunst von McQueen ist politisch und gesellschaftskritisch. Sie bezieht Position und fordert vom Betrachter das Mitdenken und Mitfühlen. Ein berührendes Beispiel dafür ist seine Installation Queen and Country . Zur Entstehungsgeschichte dieses Werkes gehört McQueens Ernennung 2003 zum offiziellen Kriegskünstler durch das britische Imperial War Museum. In dieser Eigenschaft wurde er in den Irak entsandt und Queen and Country ist eine Reaktion auf die dortigen Erlebnisse. McQueen stellt einen Eichenholzkubus auf schmale Metallfüße. Wer herantritt, kann einzelne Schuber aufziehen und die Faksimiles einer Briefmarkenedition mit den Porträts von 160 Gefallenen betrachten. Queen and Country ist jedoch erst dann vollendet, wenn die Bögen gedruckt werden und als Briefmarken offiziell in Umlauf kommen. Das hat die Royal Mail jedoch bislang abgelehnt. Auch in diesem als Denkmal für die gefallenen Soldaten gemeinten Werk zielt der Künstler auf die Teilnahme des Publikums. 

 

Zweimal ein gutes Ende 


Zum ersten Mal hat mit Steve McQueens Film das Werk eines schwarzen Regisseurs mit dem Oscar die Hauptauszeichnung beim wichtigsten Filmpreis der Welt gewonnen. Und weil McQueen gleichzeitig auch als einer der Produzenten von 12 Years a Slave verantwortlich zeichnete, ist der Brite nun gleichzeitig auch der erste schwarze Produzent, der je einen Oscar in Empfang nehmen konnte. Auf der Bühne durfte dann trotzdem sein Mit-Produzent Brad Pitt, der auch als Darsteller im Film mitwirkte, als erster ans Mikrofon. Das wirkte in diesem Zusammenhang befremdlich. Unter diesem Aspekt kann ich aber direkt zum weiteren Schicksal von Solomon Northup überleiten.

Flucht


Solomon Northup gelang es nach mehreren gescheiterten Fluchtversuchen Kontakt mit seiner Familie aufzunehmen, die schließlich seine Freilassung und Rückkehr nach New York erwirken konnte. Seine Lebensgeschichte fasste Northup in einem Buch zusammen, das 1853 erschien. Seine Autobiografie geriet im 20. Jahrhundert zunächst weitestgehend in Vergessenheit. Steve McQueens Film hat Solomon Northups tragische Lebensgeschichte wieder in das Licht der Öffentlichkeit gerückt.

Zum Abschluss möchte ich ein Statement von Steve McQueen wiedergeben, das er in bezug auf seine Videoarbeiten formuliert hat. Es passt aber auch voll auf die Wirkung seiner Filme, die er beim Zuschauer auslöst:


«I like the film to be like a wet piece of soap –
it slips out of your grasp. You have to
physically move around, you have to readjust
your position in relation to it, so that it dictates
to you rather than you to it.» (Quelle: Schaulager Basel)

Illustrationen: Fred Tille


Aktualisierung am 15.09.2021:
Gestern ist Heute | Steve McQueens Film „Twelve Years a Slave“ und „Black Lives Matter“