Privater Kunstblog zum Thema:

Künstlerisches Handeln in Zeiten globaler Umbrüche


Die Welt von heute scheint aus den Fugen geraten. Sie ist durch große Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Fragilität, Krieg und Flucht, Terror und Gewalt geprägt. Damit ist die Entwicklung unserer zukünftigen Lebenswelten wieder zu einem bedeutsamen Schwerpunkt in der Kunst geworden. Auch die Erkenntnisse und Prognosen der Techniksoziologie und der Zukunftsphilosophie werden zunehmend als Gegenstand der Kunst entdeckt. Die bildende Kunst, das Theater, die Literatur und der Film reagieren darauf auf unterschiedliche Art und Weise. Mich beschäftigt die Frage, wie kann sich der Künstler, der ja Teil dieser Entwicklungen ist, den sich daraus ergebenden existentiellen Herausforderungen sinnvoll nähern? In diesem Zusammenhang möchte ich meine Bilder aus der Zeit um 5 nach 12 in lockerer Folge vorstellen. Texte zu den globalen Auswirkungen des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ergänzen diese bildlichen Darstellungen. Über Reaktionen von Künstlern, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen, würde ich mich freuen.


Sonntag, 27. September 2015

All the World´s Futures – Impressionen von der Biennale di Venezia

Unter dem Titel All the World´s Futures findet vom 09. Mai bis zum 22. November 2015 die 56. Biennale di Venezia statt. Die Biennale ist ein Festival der Kunst und die wichtigste Weltkunstschau des Jahres. Okwui Enwezor ist der Kurator der internationalen Ausstellung All the World´s Futures, die im Zentralpavillon der Giardini und im Arsenale stattfindet. Gezeigt werden über 700 Werke von 135 Künstlern, die den Zustand der Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln erfassen sollen.


Wenn die Gondeln Künstler tragen


Vom 15.07. bis 24.07.2015 habe ich die Biennale di Venezia besucht. Zunächst möchte ich euch Impressionen aus meinem Rundgang durch die Hauptausstellung in den Arsenale-Hallen vorstellen. Dabei folge ich räumlich dem angebotenen Ausstellungsparcours und illustriere ihn mit den entsprechenden Bildern. Bei den meisten Künstlern habe ich weiterführende Linkempfehlungen eingefügt. Meine Blickwinkel und die Auswahl sind total subjektiv und erheben keinen repräsentativen Anspruch. Dennoch- so hoffe ich- könnt ihr euch ein Bild von der Biennale machen.


Wegweiser zum Arsenale

700 Kunstwerke, 136 Künstler, 89 Nationenbeiträge, 44 Colleteral-Events. Wie bewältigt man dieses Kunstlabyrinth in Venedig?


Für diese Frage hat Enwezor folgenden Ratschlag bereit: „Ich sage immer, man kann die Venedig-Biennale nicht sehen, man muss sie scannen. Ich wüsste nicht, wie man das anders machen soll. Ansonsten empfehle ich die alte DOCUMENTA-Formel: drei Tage einplanen.“
Aus eigener Erfahrung kann ich ergänzen: sechs bis neun Tage sind besser. Und gute Vorbereitung ist alles. Man muss mit einer „must have seen-Liste“ in die Ausstellung starten. Und die Augen offen halten. Es gibt viele unerwartete Kunstüberraschungen über die ganze Lagunenstadt verteilt.

Gibt es mehr als eine Zukunft für unsere Welt?


Der Titel All the World´s Futures suggeriert, dass es mehr als eine Zukunft für unsere Welt gibt. Der Titel soll wie ein Rahmen funktionieren, innerhalb dessen sich die Künstler artikulieren können. Enwezor spricht von einer künstlerischen Auseinandersetzung über die „Lage der Dinge.“ Dahinter steckt die Absicht des Kurators zu erkunden, ob die Zukunft unseres Planeten aus der Sichtweise Afrikas, Asiens, Amerikas und Europas zu denken ist. Dazu hat er Künstler aus allen Weltregionen eingeladen.
Die Welt von heute scheint aus den Fugen geraten. Sie ist durch große Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Fragilität, Krieg und Flucht, Terror und Gewalt geprägt. All the World´s Futures ist der Versuch über Trümmer und Überreste nachzudenken. Damit nimmt sich die Biennale der Übel der Welt an und ist eine explizit politische Kunstausstellung.



Düsterer Auftakt


Der Eröffnungsraum des Arsenale ist abgedunkelt. Macheten-Blumensträuße in Kombination mit Neonarbeiten von Bruce Naumann empfangen den Besucher. Die wechselseitig aufleuchtenden Neonbotschaften Tod, Schmerz, Krieg tauchen den Raum in flackerndes, unruhiges Licht, in dem die Macheten aufblitzen. Der Algerier Adel Abdessemed hat Macheten zu Sträußen zusammengesteckt, auf dem Boden verteilt und nennt das Werk Nympheas, frei nach Monets Seerosenbildern. Obwohl die Macheten in scheinbar harmlose Blumensträuße verwandelt wurden, entsteht eine Atmosphäre eingefrorener latenter Gewalt. Ein düsterer Auftakt, der sich in den nächsten Räumen fortsetzt.

Neoninstallation von Bruce Naumann. Human Nature, Life Death, Know, doesn´t Know, 1983

Macheten und Kanonen


Die Kanone von Pino Pascali setzt das kriegerische Entree fort. Im Jahr 1965 hat der Künstler eine Serie von Arbeiten zum Thema Waffen angefertigt. Pascali hat dafür durch die Montage von Spielzeug, Resten von Hydraulikschläuchen und Metallschrott Skulpturen geschaffen, die von der Erscheinung zu Waffen wurden. Waffen sind Träger des Todes. Indem Pascali sie aus Schrottstücken und Spielzeug erschafft, sind diese Waffen aber unbrauchbar, obwohl sie täuschend echt wirken. Mit diesem Verfremdungseffekt konterkariert er Militarismus und hohlen Heldenpathos. So besteht die hier gezeigte Mobile Kanone (Cannonne Semovente) aus Holz und Altmetall. Die Cannonne Semovente ist zwar auf die aufgetürmten Trommeln, den Muffled Drums, von Terry Adkins gerichtet, könnte sie aber nicht wirklich unter Beschuss nehmen. Damit wird das kriegerische Entree ironisch aber dennoch kritisch etwas gebrochen. Im Hintergrund ist bereits der Durchgang zu Katharina Grosses Installation Untitled Trumpet zu sehen.

Pino Pascali, Cannonne Semovente, Skulptur aus Holz, Altmetall, 1965
Terry Adkins, Muffled Drums, 2003


Untitled Trumpet


Für die 56. Venedig Biennale hat Grosse unter dem Titel Untitled Trumpet eine riesige begehbare Malerei/Installation in den Arsenale - Hallen realisiert.
Untitled Trumpet ist ein Kunstraum, der aus besprayten Stoffbahnen und Schuttbergen gestaltet ist. Wie bei Grosse üblich erfassen die großflächigen Farbverläufe alle Bestandteile der Installation.
Grosses Beitrag bildet nach dem düsteren Auftakt in den vorhergehenden Räumen eine überraschende Farbinsel.
Wie lässt sich Grosses Untitled Trumpet mit dem diesjährigen Leitthema der Biennale All The World’s Futures interpretieren? Um der Künstlerin gerecht zu werden eigentlich nur dadurch, dass jeder Betrachter seine Assoziationen zum Kunstwerk im Dialog mit dem Rahmenthema abgleicht.
Für viele vom Rundgang durch die internationale Ausstellung erschöpfte Besucher ist die Farbinsel einfach ein willkommener Ort der Erholung und Kontemplation. Andere sehen All The World’s Futures durchschimmern, indem sie Schutthaufen, Zerstörung, Krieg und Leichentücher assoziieren. Oder verweist Untitled Trumpet nach all der Weltrettungskunst und zentraler Marx-Lesung aus dem „Kapital“ nur auf pure Ästhetik als Gegenpart zur Politkunst? Anything goes!
Hauptsache die Farbe ist frei!

Im Kontext mit Kanone, Macheten und den Neonbotschaften Life, Death, Love, Hate, Pleasure und Pain empfand ich persönlich für die Installation eher einen Bezug zum Leitgedanken der Ausstellung. Die Schuttberge erinnern an Krieg, Erdbeben, Zerstörung. Eine Welt aus den Fugen. Der Farbüberzug symbolisiert für mich die in der westlichen Welt häufig anzutreffende Verdrängung der globalen Problemlagen bzw. eine oberflächliche Betrachtungsweise der Lage der Dinge. Farbe übertüncht und verharmlost bewusst den Ernst der Lage. Die Freiheit der Farbe, die Ästhetisierung von Zerstörung als Antwort auf die drängenden Probleme unserer Zeit?


Hauptsache die Farbe ist frei! 


Die Räumlichkeit für Grosses Installation Untitled Trumpet war nach meinem Empfinden suboptimal gewählt. Es war ein typischer Durchgangsraum mit einem wegen der Hitze geöffneten Seitenausgang. Tageslicht fiel herein und störte die Lichteffekte der Installation. Schließlich endete die Freiheit der Farbe am Feuerlöscher (unteres Bild).

Venedig - Kettensägen - Massaker


Die von der Decke hängenden Kettensägen von Monica Bonvicini reihten sich nathlos in die bedrückende Stimmung ein. Monica Bonvicini ist eine italienische Künstlerin und Hochschullehrerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Wien. Materialien wie Latex, Leder, Stahl und Beton, die durch ihre Beschaffenheit zu Vermittlern gesellschaftlich verhafteter Assoziationen werden, setzt sie in unerwartete Kontexte und stellt somit neue Verknüpfungen her. Auch in ihrem Werk Latent combustion stellt sie ungewöhnliche Zusammenhänge her. Die verklumpten Kettensägen sind mit einer teerähnlichen Masse überzogen und damit eigentlich unbrauchbar. Dennoch wirken die massigen, dunklen Klumpen latent gefährlich. Unwillkürlich assoziiert man Splatterfilme wie das Texas Chainsaw massacre und überlegt was passieren würde, wenn den falschen Personen die Sägen in die Hände fallen würden.
Nach der künstlerischen Intention schlummert in den Kettensägen Hitze, die freigesetzt einen Brand entfachen kann.

Monica Bonvicini, Latent combustion, Chainsaws, black polyurethane, matt finish, steel chains, 2015



Ashes - Ein Fischer, die Drogen und der Tod


An der Koje mit der Videoinstallation Ashes von Steve McQueen kann der Besucher leicht vorbeigehen, ohne sie bemerkt zu haben. Sie liegt ziemlich unauffällig am Rande eines der großen Räume der Arsenale-Fluchten.
Die Monitore sind Rückwand an Rückwand montiert, so dass der Betrachter von seinem jeweiligen Standort immer nur eine Sequenz wahrnehmen kann. Auf der einen Seite ist eine Daueraufnahme von Ashes, einem jungen Fischer, in Rückenansicht auf einem Boot im Meer zu sehen. Die andere Monitorseite zeigt zunächst große Detailaufnahmen von Arbeiterhänden, die mit Werkzeugen eine Steinplatte bearbeiten. Mehr und mehr zoomt McQueen das Bild auf und der Betrachter erkennt, dass die Handwerker eine Grabstätte herrichten. Das Grab von Ashes, der auf der Rückseite mit seinem Boot im Ozean schwimmt.

Bei Steve McQueen gibt es für die Besucher ein Poster zum Mitnehmen


Das Poster ist beidseitig mit Ashes Rückenansicht bedruckt, die auch als Daueraufnahme auf dem Monitor zu sehen ist. Auf der einen Seite des Posters ist das Bild mit der Geschichte des jungen Mannes überdruckt. Es geht um den Tod von Ashes, einen jungen Fischer, der auf der Insel Grenada in einen Drogenkrieg gerät. Durch Zufall findet er ein Drogenpaket, das er für sich behält. Damit will er seine Sehnsucht nach einem besseren Leben finanzieren. Doch die Drogenbesitzer spüren ihn auf und fordern die Drogen zurück. Ashes weigert sich und auf der Flucht vor den Dealern erschießen sie ihn von hinten. Der Traum vom besseren Leben endet im Tod.

Der Himmel hängt voller Menschen


Der türkische Künstler Kutluğ Ataman hat einen raumgreifenden Baldachin aus vielen kleinen LCD Bildschirmen aufgehängt. Gezeigt werden Menschen, die in Beziehung zu dem Industriellen und Wohltäter Sakip Sabanci (1933-2004) standen. Mit seinem LCD - Himmel will Ataman an das soziale Engagement des Industriellen erinnern. Nach dem Zufallsprinzip werden die Köpfe ständig durch andere ersetzt. Ein flirrendes Meer aus tausenden Bildern zeigt sich dem Betrachter. Die Flüchtigkeit menschlicher Identität wird so thematisiert.
Sakıp Sabancı gründete im Jahr 1967 die Sabancı Holding. Sakıp Sabancı initiierte viele soziale Einrichtungen in der Türkei, zu denen eine Universität, Schulen, Kindergärten, Kinderdörfer, Behindertenschulen und ein Sozialrentenfonds gehören. Er war unter anderem auch einer der größten Kunstmäzene der Türkei. Sabancı hinterließ ein Vermögen von 2,65 Milliarden Euro.

Kombiniert wird dieser Portraithimmel mit einer Auswahl von Fotografien von Chris Marker, die Menschen als Passagiere, also auch in einem flüchtigen, instabilen und vorübergehenden Zustand, zeigen. Zwischen den in sich ruhenden Fotografien von Marker und den ständig wechselnden Bildern von Ataman bildet sich ein produktives Spannungsverhältnis. Stille Bilder treffen auf optisches Rauschen.

Kutluğ Ataman, The Portrait of Sakıp Sabancı, Installation, 2014
Chris Marker, Passengers, 2011, 134 Fotografien


Kein Papst in Avignon


Das Finale in den Arsenale-Fluchten liefert Georg Baselitz mit acht monumentalen Leinwänden.
Kein Papst in Avignon ist einer der Titel einer Serie von acht Selbstportraits von Georg Baselitz.
Es handelt sich um seine aktuellsten Werke. Das letzte Bild der Serie war gerade noch rechtzeitig zur Eröffnung fertig geworden. Nach eigenen Worten will Georg Baselitz den Alterungsprozess des Körpers durch frische, aufmunternde Farben und durch Verzicht auf räumliche Illusionen in Kontrast setzen. Deshalb sind die Bilder auch "flach" gemalt. Sie haben weder als Motiv noch im Bildraum eine körperliche Dreidimensionalität.
Jeweils eine nackte Figur kopfüber auf schwarzem Grund. Damit bleibt Baselitz, der im Prinzip seit 1969 seine Bilder verkehrt herum malt, seinem Markenzeichen treu. Georg Baselitz hat so für sein malerisches Werk einen einzigartigen Wiedererkennungswert geschaffen.
Im Ausstellungsparcours der Arsenale-Hallen ist nach seinen Entwürfen ein im Grundriss aufgeschnittener Oktaeder gebaut worden. Hierdurch ist eine Art Kathedrale für die Präsentation der Werke von Baselitz entstanden, die von der darum liegenden Ausstellungshektik abgeschirmt ist. 

Grenzenloser Traum


Auf dem Arsenale - Gelände gibt es auch Länderpavillons, von denen ich einige vorstellen möchte.
Ich beginne mit dem Pavillon der Republik Kosovo. In einem winzigen, begehbaren Raum lässt die junge Künstlerin Betonmauern in azurblauen Sand zerbröseln. Von den Grenzsperren bleiben nur die Armierungseisen stehen. In den Farben des Tages von Sonnenauf- oder -untergang wird der Raum beleuchtet und mit dem Wechsel der Lichtstimmungen erlebt der Betrachter im Laufe des Tages ein allmähliches Verschwinden der Grenzen. Bei Flaka Haliti handelt es sich um eine Fortführung ihrer Auseinandersetzung mit Grenzen, Sehnsüchten, Sehnsuchtsorten. Das Blau ist in ihrem Fall konkret der Corporate Identity der Vereinten Nationen entnommen.
Die Künstlerin ließ blauen Sand auf dem Boden des kosovarischen Pavillons aufschütten, und die Sandkörner sollen während der gesamten Biennale-Laufzeit von den Besuchern in den Rillen ihrer Schuhsohlen weitergetragen werden. „So wird meine Arbeit allmählich deterritorialisiert werden“, sagt Haliti. Die Grenzen sollen in dieser aussagekräftigen Installation allmählich verschwimmen.
Angesichts des sich auf der Balkanroute derzeit abspielenden Flüchtlingsdramas mit den Stacheldrahtzäunen in Ungarn ist ihr ein Kunstwerk von beklemmender Aktualität gelungen.

Flaka Haliti, Speculating on the Blue, Sand, Metal, Light, 2015




Der Flug des Phoenix


Im Zusammenhang mit dem China-Pavillon auf dem Arsenale-Gelände zeigt der chinesische Künstler Xu Bing riesenhafte Vögel. Sie sind aus Bauabfällen geformt, die chinesische Wanderarbeiter zurückgelassen haben. Die Skulpturen wiegen rund zwölf Tonnen. Enzewor, der von der tatsächlichen Größe der Skulpturen überrascht war, hatte zunächst Schwierigkeiten die Exponate unterzubringen. Schließlich wurden sie in den beiden Werftbecken des Arsenale aufgehängt. Ein suboptimaler Ort. Durch das gleißende Gegenlicht der Sonne kann man die Riesenvögel teilweise nur als dunkle Silhouette ohne die feinen Strukturen wahrnehmen. Außerdem hängen die Exponate zu weit entfernt vom Betrachter, so dass man die komplexe Materialfiligranität nicht detailliert erfassen kann. Die beiden Riesenvögel hätten in einer geschlossenen Halle hängen müssen, um ihre gigantische aber auch filigrane Wirkung voll zu entfalten.
Xu Bing ist ein chinesischer Konzeptkünstler, der vor allem mit seinen Werken in den Bereichen Druckgrafik und Kalligrafie, aber auch mit Installationen bekannt wurde. Er ist Vizepräsident der Zentralen Hochschule der Künste in Peking. Seine Installation Book from the Sky gilt als ein Hauptwerk zeitgenössischer chinesischer Kunst.


Fäden im Labyrinth


Enwezor hat der Ausstellung ein globales Themna gegeben, das sehr komplex präsentiert wird. Um Aspekte auszusparen oder auszuwählen oder um künstlerische Ansätze zu verdeutlichen oder zu interpretieren, bietet er dem Besucher sogenannte Filter an. Einer dieser Filter Liveness: On epic duration. Für Enwezor ist für Liveness die Beschäftigung mit der menschlichen Stimme wichtig.

Musik muss dabei sein


Es gibt viele Liedtexte und Lieder zu sehen und zu hören aber auch viele ausgestellte Musikinstrumente. Die Installation Staged: Three Dences bezieht sich auf Jason Moran. Er ist ein US-amerikanischer Jazz-Pianist.

Bild rechts oben: Jason Moran, Staged: Three Dences, 2015
Bild unten: Tan Dun, Living in Future, Visual Music & Performance


So erforscht Jeremy Dellers Factory Songs der britischen Arbeiterklasse, die er in einer Musikbox zusammengestellt hat. Aus der Music-Box, die in Betrieb ist, erschallen aber keine Arbeiterlieder, sondern nur Fabrikgeräusche. Das Exponat ist allerdings in den Giardini zu finden.


Ein weiterer Filter ist ist die Live-Lesung aus dem Kapital von Karl Marx. Mit der Wiederbelebung dieses berühmten Standardwerks zur Politischen Ökonomie unterstreicht Enwezor den politischen Anspruch der von ihm kuratierten Ausstellungen. Viele Künstler haben sich direkt mit dem Kapital 
auseinandergesetzt. In abgewandelter Form auch die Künstlerin Natalya Pershina - Yakimanskaya.

Putin und die Kleidung der Demonstranten -  Politische Statements


Bild oben links: Gluklya/Natalia Pershina Yakimanskaya, Clothes for the demonstration against false election of Vladimir Putin, 2011-2015
Bild unten: Barthélémy Toguo, Detailansicht Urban Requiem
Bild oben rechts: Kunstmarktkritische Installation, die den Zusammenhang zwischen Geld und Kunst aufzeigen soll. Im Hintergrund die Namen großer Museen, im Vordergrund ein aus gestapelten Katalogen gebildetes Viereck, in dessen Mitte Geldscheine liegen.

Bei der Künstlerin Natalya Pershina - Yakimanskaya - besser bekannt als Gluklya sind Kleidungsstücke eine Form der nonverbalen Kommunikation. Eine bestimmte Art von Kleidung kann dazu verwendet werden, um lautlos die Geschichte unseres Lebens zu erzählen und sie kann sogar als politische Aussage verwendet werden. Wie ein Banner um zu protestieren und unsere Stimme zu erheben. Mit ihrer Präsentation stellt sie die Legitimität von Putins Wiederwahl in Frage. Zugleich thematisiert sie staatliche Zensur und Repression. Dadurch wird es für die Künstlerin und Feministin gefährlich und kompliziert mit ihrer künstlerischen Arbeit Gehör zu finden.



Für Toguo war die Skulptur das geeignete Medium, um seine Botschaften in Form von Slogans zu drängenden politischen, sozialen und Mißständen aus allen Regionen der Welt darzustellen. Urban Requiem mahnt und gedenkt der Menschen, die Unrecht und Diskriminierung erleiden müssen. Mit seinen Druckstempeln in Stahlregalen und den Papierprints an der Wand führt er die Probleme und Perspektiven der Welt innerhalb eines einzigen und universalen Raums zusammen.


Überraschende Beziehungen


Beim Biennale - Besuch hat sich für mich noch ein eigener visueller Filter ergeben. Mir sind bei den verschiedenen Exponaten und Präsentationen im Arsenale und den Giardini überraschende Querverbindungen und Beziehungen aufgefallen, die ich am Beispiel von Grosses bereits erwähntem Werk Untitled Trumpet aufzeigen möchte.

Raumgreifende Farbe als Gestaltungsidee findet sich nicht nur bei Katharina Grosse, sondern auch bei Jeremy Deller (oben links) und Ivan Grubanov (oben rechts).
Grubanov hat auf den Boden ausgeblutete Fahnen verstreut. Er hat die Flaggen von verschwundenen Staaten gesammelt, mit Lösungsmittel behandelt und so lange über die Bodenplatten gerieben, bis sie dort ihre Spuren hinterließen. Auch das ist ein Ansatz zur Freiheit der Farbe als künstlerisches Gestaltungsmittel. Im Gegensatz zu Grosse, die inhaltliche Statements zu ihren Werken ablehnt, wird hier eine Aussage angeboten: United Dead Nations.
Jeremy Deller ist ein britischer Künstler, der mit dem Turner Prize ausgezeichnet wurde.Die Wand vor der Music-Box in der nur scheinbar seine Factory Songs enthalten sind, hat er mit den Farben des Abendrots besprüht, passend zum ironischen Slogan Hello, today you have day off.
Die Arbeiten von Deller und Grubanov sind allerdings in den Giardini zu finden.

Was bleibt haften? Fazit | Arsenale


Die Ausstellungsinszenierung vom Eröffnungsraum bis zu Grosses Farbinsel war beeindruckend. Der düstere Auftakt steigerte sich in diesem Ausstellungsabschnitt von Raum zu Raum und eine für die zeitgenössische Lebenswelt charakteristische Atmosphäre von Unbehagen und Beklommenheit wird erzeugt. Danach wechseln die Themen in bunter Folge und mit wechselnder inhaltlicher Gewichtung. Der Zusammenhang zur Lage der Dinge geht zunehmend verloren. Neben den soeben genannten Highlights steht zum Beispiel Steve McQueens eindrucksvolle aktuelle Videoinstallation Ashes über das tragische Schicksal eines jungen Fischers im Kontrast zu einer Abfolge von relativ belanglosen und inhaltsneutralen Exponaten, Installationen und Performances. Hier hilft nur scannen und weitergehen. Die Highlights wurden für mich überraschenderweise durch die Malerei gesetzt. Katharina Grosse mit ihrer Freiheit der Farbe im Mittelteil und der Altmeister Georg Baselitz als fulminanter Schlusspunkt am Ende der Arsenale-Flucht.
Viele Kritiker behaupten, dass die große Ausstellung im Arsenale den Besucher förmlich erschlägt.
Es sei ein visuelles Trommelfeuer. Kaum etwas bleibt länger im Gedächtnis. Diese Kritik kann ich so nicht nachvollziehen.
Die Ausstellungsinszenierung enthält neben viel Belanglosigkeit, Verlegenheitskunst und Inhaltsleere sehr wohl eine Reihe von Werken, die einen künstlerischen Ausdruck zur Lage der Dinge finden und dem Betrachter Erkenntnismomente bescheren. Ein visuelles Trommelfeuer sieht anders aus. Ich hätte mir durchgehend mehr künstlerisches Trommelfeuer gewünscht. Das hat noch keiner Ausstellung und vor allem keinem Besucher geschadet.
All the World´s Futures | 56. Biennale di Venezia

09. Mai bis zum 22. November 2015

Über Okwui Enwezor

Okwui Enwezor ist ein Kurator und Autor. Der gebürtige Nigerianer hat fünf Großausstellungen auf drei Kontinenten, darunter die DOCUMENTA 11 in Kassel, verantwortet. In Venedig ist er verantwortlich für die große Ausstellung im Zentralpavillon in den Giardini und den Arsenale-Hallen. Seit Oktober 2011 ist er Direktor des Hauses der Kunst, München.

Goldene Löwen der 56. Kunstbiennale in Venedig

Die 56. Kunstbiennale in Venedig zeichnet den armenischen Pavillon als besten nationalen Beitrag aus. Den Preis der besten Künstlerin nimmt Adrian Piper mit nach Berlin

Abseits der zentralen Ausstellungsorte der Biennale, draußen auf der Insel San Lazzaro, dort wo ein Mechitaristenkloster sich seit bald 300 Jahren um die armenische Sprache und Kultur verdient macht, ist der nationale Beitrag Armeniens zur Biennale eingerichtet und erinnert an den Völkermord vor 100 Jahren.


Die 1948 in New York geborene Konzeptkünstlerin, Adrian Piper, lebt seit 2005 in Berlin. Nach Ansicht der Jury ist Piper eine Pionierin, die die Konzeptkunst um subjektive Aspekte erweitert habe.

Sämtliche Fotos: Fred Tille
Obwohl meine Fotos nur allgemeine Ausstellungsansichten ohne explizite, detaillierte Werkfotos zeigen, bitte ich die Urheberrechte der Künstler an ihren Werken zu beachten.