McQueens Film „Twelve Years a Slave“
beruht auf der wahren Geschichte von einem freien Afroamerikaner, der
zur Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs gekidnappt und versklavt
wird. Zwölf lange Jahre hofft Solomon Northup, wieder aus der
Gefangenschaft zu entkommen. Die Lebensgeschichte
des Solomon Northup ist heute aktueller denn je. Sie ist eine Parabel
darüber, was Macht über Menschen aus Menschen macht und führt
direkt zur Tötung von George Floyd am 25. Mai 2020, der bei
seiner gewaltsamen Festnahme minutenlang “I can't
breathe” rief, als er auf dem Boden lag und ein Polizist auf
seinem Hals kniete.
Steve McQueen als Wanderer zwischen den Künsten
Wenn ein bildender
Künstler das Medium wechselt und zum Filmregisseur wird, sitzen die
Kunstinteressierten und die Cineasten gespannt vor der großen Leinwand. Der
Zuschauer zieht Vergleiche. Was macht der bildende Künstler anders oder besser
als „Nur“-Filmregisseure. Gibt es Unterschiede in der Herangehensweise, welche
Bilder sind einprägsamer? Steve McQueen ist ein bekannter bildender Künstler
der zwischen Videokunst und Kinofilmkunst wechselt.
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Kidnapped |
Julian
Schnabel ist ein weiterer prominenter Künstler, der sich als Filmregisseur
betätigt hat. Schnabels zweiter Film, Before
Night Falls (Bevor es Nacht wird), erhielt bei den Filmfestspielen in
Venedig 2000 den großen Preis der Jury sowie die Coppa Volpi für Javier Bardem
als bestem Darsteller. 2007 führte Schnabel bei seinem dritten Film, Le scaphandre et le papillon (Schmetterling
und Taucherglocke), Regie. Sowohl beim Filmfestival in Cannes als auch bei
der Verleihung der Golden Globes wurde der Film in der Kategorie „Beste Regie“
ausgezeichnet. Ein weiteres Beispiel: Sam
Taylor-Wood ist eine britische Regisseurin, Fotografin, Künstlerin und
Musikerin. Nach einigen Kurzfilmen gab sie 2009 mit der
John-Lennon-Filmbiografie Nowhere Boy ihr Regiedebüt bei einem
Spielfilm. Für 2015 ist die Verfilmung des Erotikromans Shades of Grey
angekündigt.
Dabei fällt auf, dass es
eben die Künstler unter den Filmkünstlern sind, die für starke überwältigende
Bilder sorgen. Dabei rücken erfreulicherweise Kunst und Kino zunehmend
zusammen. Im Gegenzug erscheint es schwieriger, Filmregisseure zu erwähnen, die
in der bildenden Kunst ihre Spuren hinterlassen haben. Kultregisseure wie Lars
von Trier, Jim Jarmusch, Peter Greenaway können zum Vergleich nicht
herangezogen werden. Sie haben als Filmemacher selbst Künstlerstatus.
McQueen legte nun mit 12 Years a Slave (2013) seine dritte
Regiearbeit vor. In meinem Post möchte ich den Schwerpunkt auf Steve McQueen
als Wanderer zwischen beiden Künsten legen. Zunächst aber einige Bemerkungen
zum Kinofilm.
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Twelve Years a Slave | Erfahrungsbericht von
Solomon Northup
Alles
fing damit an, dass Steve McQueen einen Film über die Sklaverei drehen wollte.
Was ihm zunächst am meisten Probleme bereitete, war der Einstieg. McQueen hatte
die Idee, einen freien Mann zum Protagonisten zu machen, der in den Nordstaaten
gekidnappt und dann im Süden in die Sklaverei verkauft wird. Auf der Suche nach
einem passenden Filmstoff stieß er eher zufällig auf den in Vergessenheit
geratenen Erfahrungsbericht von Solomon Northup. Solomon Northup war ein
Afroamerikaner, der als freier amerikanischer Staatsbürger von den Nordstaaten
in die Südstaaten verschleppt und in die Sklaverei gezwungen wurde. Das Buch
mit dem Titel "12 Years a Slave" fügte sich perfekt in den
künstlerischen Ansatz von McQueen ein.
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Solomon Northup | Abb. Wikipedia | For Free Use |
„Letztlich
war es Schicksal“, betonte der Filmkünstler in einem Interview. Denn die
Auswahl des Mediums ergibt sich bei Steve McQueen immer aus dem Stoff selbst. Aus
seiner Sicht verlangt jede Thematik nach einer bestimmten Erzählweise. Auch
sein Kinofilm Twelve Years a Slave folgt diesem inneren Prinzip.
Wanderer zwischen den Künsten
Steve McQueen, 1969 in
London geboren, machte sich zunächst als bildender Künstler einen Namen und als
bekannter Videokünstler gewann er 1999 den renommierten britischen Turner
Preis. Im Jahr 2002 stellte er auf der Documenta aus. 2008 wechselte er dann
von der Videokunst zur Filmkunst auf der großen Leinwand: Sein erster Spielfilm
Hunger (2008) setzte auch in der Filmwelt ein Zeichen und mit Hunger, der von den letzten Lebenswochen
des IRA-Häftlings Bobby Sands erzählt, gewann er auf Anhieb bei den
Internationalen Filmfestspielen von Cannes die Camera d’Or für den besten
Debütfilm. Nach seinem gefeierten Sexsuchtdrama Shame (2011) präsentiert McQueen nun mit 12 Years a Slave (2013) seine dritte Regiearbeit. Als Wanderer
zwischen den Künsten fand er sich sehr gut zurecht und zeigte neue Wege auf,
wie sich die unterschiedlichen Künste gegenseitig hervorragend ergänzen. McQueen hat dem Film und
der zeitgenössischen bildenden Kunst, die sich politisch versteht, neue Impulse
gegeben.
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Gefangen |
Über die Machtlosigkeit der Kunst
Seine Videoarbeit Western Deep, die er 2002 auf der
Documenta in Kassel präsentierte, hatte ihm gezeigt, wie machtlos die Bildende
Kunst sein kann. Der Film ist in der weltweit tiefsten Goldmine in Südafrika
aufgenommen, die unter dem Apartheidregime noch «Western Deep» hieß. „Die
ersten Minuten von Western Deep
sind in Finsternis getaucht, auch gelegentlich hellere Sequenzen lassen kaum
etwas klar … sehen. Allmählich werden unscharfe Gesichter und Gitterstrukturen
erkennbar, bis man anhand der Helme und der Liftkabine begreift, dass die
Kamera zusammen mit Minenarbeitern einen dunklen Schacht hinabfährt.“ (Quelle:
Schaulager Basel) Ausbeutung und Unterdrückung prägen diese furchtbaren
Arbeitsumstände. In Western Deep wird die unmittelbare Konsequenz dieser
Verhältnisse für den Menschen in klaustrophobischer Enge und Isolation in der gefühlt
unendlichen Tiefe der Erde in den Vordergrund gerückt. Nachdem er auf der
Documenta in Kassel Western Deep
vorgestellt hatte, erwartete McQueen nach eigenem Bekunden einen Aufschrei der
Empörung. Doch es passierte nichts, absolut nichts. Vielleicht nahm der
Künstler deshalb 2008 die Möglichkeit wahr, seinen ersten Kinofilm zu drehen,
um damit ein größeres Publikum zu erreichen.
Das Bild hat immer das letzte Wort
Der Wechsel des Mediums
ist für den Künstler eine einzigartige Chance sein Wissen und seine Erfahrung
aus der vorausgegangenen Arbeit als Videokünstler im anderen Filmgenre einzubringen. Diese Transformationen
werden deutlich in der Art, wie er auf der Leinwand Räume schafft, mit subtilen
Beobachtungen am Rande einer Filmszene die Wahrnehmung schärft oder den Ton
einsetzt. Diese besondere Umsetzung des Filmstoffes hat dem Künstler große
Anerkennung bei der Filmkritik eingebracht. „Denn Steve McQueen erzählt durch
den Körper. Jede Gefühlsregung, jeder Schmerz, jedes Quäntchen Glück ist darin
abgelagert. Handwerkliche Virtuosität verbindet sich hier mit
größtmöglicher Unmittelbarkeit der Bildsprache.“ (Quelle: Art Magazin 9/14,
onlineversion, Gerhard Mack). Das sieht der Zuschauer
auch ganz deutlich in 12 Years a Slave.
Allein die per Handkamera gedrehte Szene, die die Auspeitschung einer Sklavin
zeigt, belegt die schon angesprochene künstlerische Transformation. Ein
weiteres Beispiel: Solomon Northup hatte sich als Violinist einen Namen gemacht
und diverse lukrative Engagements großer Hotels und Varietés erhalten. Bei
einem dieser Engagements, das ihn nach Washington, D.C. führte, wurde er von
seinen weißen Auftraggebern betrogen, gekidnappt und in Washington gefangen
gehalten bis er von Menschenhändlern nach New Orleans und von dort aus ins
ländliche Louisiana verschleppt wird, wo er zwölf Jahre seines Lebens als
Sklave unter geändertem Namen zu Arbeiten auf verschiedenen Farmen gezwungen
wurde. Diese Gefangenschaft in Washington, D.C schildert er im Film in einer
besonders beeindruckenden Einstellung.
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Der Schrei |
In einem
einzigen Zoom zieht McQueen die Kamera aus dem inneren des Gefängnisses, durch
die vergitterten Fenster ins Freie, geht mehr und mehr in die Totale und endet
im Schwenk mit einem Blick auf das Weiße Haus, das in der Großeinstellung nur
einen Fußweg vom Gefängnis entfernt liegt. Besser und eindringlicher kann man
die Tragödie zwischen Freiheitssymbol und Sklaverei in einer einzigen Szene
nicht darstellen. Das Publikum kann ab diesem Zeitpunkt die
Geschichte der Verschleppung und Versklavung ganz konkret miterleben. Gemeinsam
werden Solomon Northup und die Zuschauer in dieses Labyrinth der Sklaverei
versetzt und müssen sich dort zurechtfinden.
Lynching Tree und Twelve
Years a Slave
Als Wanderer zwischen den
Künsten arbeitet McQueen parallel. Das Leuchtkastenfoto Lynching Tree zum Beispiel ist ein Ergebnis seiner Recherchen für
seinen Film Twelve Years a Slave. In Twelve Years a Slave bezieht sich McQueen
ausdrücklich auf dieses Werk, das im Zusammenhang mit der Recherche zum Film
entstanden ist. Lynching Tree zeigt
einen Ort, der Schauplatz einer grausamen Vergangenheit ist. Zu sehen ist ein Baum
in der Nähe von New Orleans, an dem früher Sklaven erhängt wurden. Am Boden um
den Baum herum befinden sich Gräber der Gelynchten. Im Film wird diese Fotografie
zum Ausgangspunkt einer der eindringlichsten filmischen Einstellungen. Gezeigt
wird wie Northup nach einem Fluchtversuch über sehr lange Zeit mit einer
Schlinge um den Hals nur auf den Zehenspitzen stehend an einem Baumast
aufgehängt wird. Würde er einknicken, wäre es sein sicherer Tod. Im Verlauf der
Zeit zeigt McQueen wie im Hintergrund des Bildes die Mitsklaven nach und nach
erscheinen und ihren erzwungenen Tätigkeiten nachgehen, ohne auf den
Gepeinigten zu achten. Eine verdichtete Szene, die in ihrer dramaturgischen
Eindringlichkeit auch auf einer Theaterbühne spielen könnte. Hier hat das Bild im
Sinne des französischen Philosophen Jacques Derrida tatsächlich das letzte Wort.
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Auf der Plantage |
Das Leiden der
Mitmenschen zeigen
In
seinen Filmen und Videos geht es um Einsamkeit, Gewalt, die Schattenseiten
unserer Existenz und um das Sehen in anderen Mustern. Die Kunst von McQueen ist politisch und gesellschaftskritisch.
Sie bezieht Position und fordert vom Betrachter das Mitdenken und Mitfühlen. Ein
berührendes Beispiel dafür ist seine Installation Queen and Country . Zur
Entstehungsgeschichte dieses Werkes gehört McQueens Ernennung 2003 zum
offiziellen Kriegskünstler durch das britische Imperial War Museum. In dieser
Eigenschaft wurde er in den Irak entsandt und Queen and Country ist eine
Reaktion auf die dortigen Erlebnisse. McQueen stellt einen Eichenholzkubus
auf schmale Metallfüße. Wer herantritt, kann einzelne Schuber aufziehen und die
Faksimiles einer Briefmarkenedition mit den Porträts von 160 Gefallenen
betrachten. Queen and Country ist
jedoch erst dann vollendet, wenn die Bögen gedruckt werden und als Briefmarken
offiziell in Umlauf kommen. Das hat die Royal Mail jedoch bislang abgelehnt.
Auch in diesem als Denkmal für die gefallenen Soldaten gemeinten Werk zielt der
Künstler auf die Teilnahme des Publikums.
Zweimal ein gutes Ende
Zum ersten Mal hat mit
Steve McQueens Film das Werk eines schwarzen Regisseurs mit dem Oscar die
Hauptauszeichnung beim wichtigsten Filmpreis der Welt gewonnen. Und weil
McQueen gleichzeitig auch als einer der Produzenten von 12 Years a Slave verantwortlich zeichnete, ist der Brite nun
gleichzeitig auch der erste schwarze Produzent, der je einen Oscar in Empfang
nehmen konnte. Auf der Bühne durfte dann
trotzdem sein Mit-Produzent Brad Pitt, der auch als Darsteller im Film
mitwirkte, als erster ans Mikrofon. Das wirkte in diesem Zusammenhang
befremdlich. Unter diesem Aspekt kann ich aber direkt zum weiteren Schicksal
von Solomon Northup überleiten.
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Flucht |
Solomon Northup gelang es
nach mehreren gescheiterten Fluchtversuchen Kontakt mit seiner Familie
aufzunehmen, die schließlich seine Freilassung und Rückkehr nach New York
erwirken konnte. Seine Lebensgeschichte fasste Northup in einem Buch zusammen,
das 1853 erschien. Seine Autobiografie geriet im 20. Jahrhundert zunächst
weitestgehend in Vergessenheit. Steve McQueens Film hat Solomon Northups tragische
Lebensgeschichte wieder in das Licht der Öffentlichkeit gerückt.
Zum Abschluss möchte ich
ein Statement von Steve McQueen wiedergeben, das er in bezug auf seine
Videoarbeiten formuliert hat. Es passt aber auch voll auf die Wirkung seiner
Filme, die er beim Zuschauer auslöst:
«I like the film to be like a wet piece of soap –
it slips out of your grasp. You have to
physically move around, you have to readjust
your position in relation to it, so that it dictates
to you rather than you to it.» (Quelle: Schaulager Basel)
Illustrationen: Fred Tille
Aktualisierung am 15.09.2021:
Gestern ist
Heute | Steve McQueens Film „Twelve Years a Slave“ und „Black
Lives Matter“