Privater Kunstblog zum Thema:

Künstlerisches Handeln in Zeiten globaler Umbrüche


Die Welt von heute scheint aus den Fugen geraten. Sie ist durch große Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Fragilität, Krieg und Flucht, Terror und Gewalt geprägt. Damit ist die Entwicklung unserer zukünftigen Lebenswelten wieder zu einem bedeutsamen Schwerpunkt in der Kunst geworden. Auch die Erkenntnisse und Prognosen der Techniksoziologie und der Zukunftsphilosophie werden zunehmend als Gegenstand der Kunst entdeckt. Die bildende Kunst, das Theater, die Literatur und der Film reagieren darauf auf unterschiedliche Art und Weise. Mich beschäftigt die Frage, wie kann sich der Künstler, der ja Teil dieser Entwicklungen ist, den sich daraus ergebenden existentiellen Herausforderungen sinnvoll nähern? In diesem Zusammenhang möchte ich meine Bilder aus der Zeit um 5 nach 12 in lockerer Folge vorstellen. Texte zu den globalen Auswirkungen des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ergänzen diese bildlichen Darstellungen. Über Reaktionen von Künstlern, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen, würde ich mich freuen.


Montag, 6. Februar 2017

Uncertain Journey - Chiharu Shiota in Berlin

Chiharu Shiota lebt und arbeitet seit 1996 in Berlin. Hier studierte sie auch an der Universität der Künste. Sie durchlief eine klassische Ausbildung als Malerin, fühlte sich aber zu sehr durch die Leinwand eingeschränkt. Shiota zog es in den dreidimensionalen Raum. Heute stellt Chiaharu Shiota ihre Installationen international aus, in Galerien, Museen und auf Biennalen. Mit ihrem monumentalen Kunstwerk The Key in the Hand repräsentierte sie Japan auf der Biennale di Venezia 2015. 

Coming soon


Berlin ist seitdem zu ihrer zweiten Heimat geworden. Für Chiharu Shiota ist die Stadt voller Inspirationsquellen. In Berlin findet sie viele Geschichten. „Es [ist], unglaublich wie viele Erinnerungen diese Stadt [birgt]“ erzählte die Künstlerin in einem Interview.  

Zwei Begegnungen mit Chiharu Shiota

Das erste Mal begegnete ich dem Werk Chiharu Shiotas 2015 in Venedig. Unter dem Titel The Key in the Hand repräsentierte sie Japan auf der Biennale di Venezia 2015.

Das zweite Mal begegnete ich dem Werk Shiotas 2016 in der Berliner Galerie Blain|Southern, in der eine neue großflächig angelegte, speziell auf die Räumlichkeiten abgestimmte Installation mit dem Titel Uncertain Journey präsentiert wurde. Für Chiharu Shiota war es nach acht Jahren wieder eine Einzelausstellung in Berlin und dementsprechend war das Publikumsinteresse sehr groß. Ich war nach The Key in the Hand in Venedig natürlich auch gespannt auf die neue Großinstallation in Berlin.

Hier eine Gegenüberstellung der beiden Werke:

Links: Venedig | Rechts: Berlin
In Venedig setzte die Künstlerin alte, möglicherweise noch fahrtüchtige Holzboote ein. In Berlin sehen sie als Stahlgerippe wie gesunkene Boote aus. Auf die Frage, warum sie bei Uncertain Journey im Vergleich zu Venedig quasi nutzlose, skelettartige Boote verwendet hat, antwortet Shiota: „In Venedig war es das erste Mal, dass ich ein Boot in meiner Arbeit verwendet habe. Boote sind immer unterwegs und befördern Menschen-so sind auch wir in gewissem Sinne immer in einem Boot – bereit loszufahren, ohne genau zu wissen, wo wir hinwollen. Das ist die Idee, die ich mit dem Boot zum Ausdruck bringen will. Und die Boote befinden sich in einem roten Ozean aus Fäden, die alle miteinander verbunden sind. So wirkt die Installation wie das Universum.“ (1)

Die Macht der Marke | Rote und schwarze Wollfäden zum labyrinthischen Fadengespinst verwoben

Chiharu Shiotas Markenzeichen sind die Wollfäden. Sie spinnt mit ihren Wollfäden Dinge ein, die nicht vergessen werden sollen, Klaviere, Stühle, Kleider, Schuhe, und mit ihnen auch die Empfindungen und Gefühle der Menschen, die diese Dinge einst besaßen. Die japanische Künstlerin will festhalten, was vergänglich ist. 

Nicht um es zu fesseln, sondern um es zu schützen und zu erhalten. Viele Betrachter assoziieren mit den Stühlen, Kleidern und Schuhen Themen, die mit Flucht und Verlust zu tun haben. Doch diese Interpretation greift zu kurz. 

Mit ihren Kunstobjekten berührt Shiota Grundfragen menschlicher Existenz: Werden und Vergehen. Ankommen und Wegfahren. Sicherheit und Unsicherheit.  

Schlüssel als bedeutungsgeladene Objekte gehören fest zu Shiotas Repertoire.
Venedig: Keys in the Hand: 50.000 alte Metallschlüssel hängen in diesem Netzwerk. Alles echte Schlüssel, die Museen auf der ganzen Welt für die Künstlerin gesammelt haben. Für Shiota ist es wichtig, dass die Schlüssel eine Geschichte, einen Bezug zu Menschen haben. „Der Schlüssel beschützt das Leben“ erklärt die Künstlerin in einem Interview. Schutz auch für Venedig, als Metapher für die untergehende Lagunenstadt?
Berlin: State of Being (Keys) Hier hat Shiota viele alte Schlüssel in ihre Fadenwelt mit aufgenommen, die fast im freien Fall zu sein scheinen, aber von den Fäden aufgefangen werden.

Uncertain Journey 

Als ich den Ausstellungsraum betrat, war der erste Blick auf die sieben Meter hohe und 29 Meter breite Installation aufgrund seiner Größenwirkung beeindruckend. Die blutroten direkt und indirekt beleuchteten Wollfäden entfalten in dem großen, hohen Galerieraum intensiv leuchtende Farben und eine faszinierende Lichtstimmung. 

Auf mich hatte diese komplexe und mehrschichtige Fadenkonstruktion eine kontemplative Wirkung. Ich empfand einen Raum der Stille. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass nur wenige Meter vom Innenhof, in dem sich die Galerie befindet, die belebte und verkehrsreiche Potsdamer Straße vorbeiführt. 



Ich bewegte mich deshalb zunächst ziemlich frei und unvoreingenommen von vorher publizierten inhaltlichen Interpretationsangeboten in der Installation.

Durch Zufall gab es während der Laufzeit von Uncertain Journey auch ein Ausstellungsprojekt der Akademie der Künste Berlin mit dem Titel Uncertain States zu sehen. Über diese hochinteressante Veranstaltung werde ich demnächst berichten. Hierbei geht es nicht nur um das Uncertain in beiden Ausstellungstiteln. Diese große Veranstaltungsreihe in der Akademie der Künste fragt, was Kunst in Umbruchsituationen antreibt und ist damit „eine Ausstellung, in der die Bedeutung des Erinnerns und Erzählens für den Prozess gesellschaftlicher und kultureller Transformation befragt wird.“ (2) Künstler übernehmen die Verantwortung für die „Geschichten der Anderen.“ Mit der Betonung des Erinnerns und Erzählens gibt es viele Schnittmengen mit den Kernthemen von Shiotas Werk, die in ihren Wollfäden auch Erinnerungen und Dinge einspinnt, deren Geschichten einen direkten Bezug zu Menschen haben und die nicht vergessen werden sollen.

Uncertain Journey  | Blick in die Ausstellung

Uncertain Journey  | Blick in die Ausstellung

Chiharu Shiota selbst erkennt in dem Fadengespinst von Uncertain Journey auf dem Kopf stehende Wellen. Nach eigener Aussage verwendet die Künstlerin hier das Motiv des Bootes, um die Ungewissheit unseres Lebens und den Versuch, Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen, bildhaft darzustellen. 

Wohin die Reise geht, bleibt unklar. Ob nun zu einem anderen Kontinent oder ins eigene Unterbewusstsein, das ist der Vorstellung jedes Besuchers überlassen.  

Kleinere Werke im 2. Stock der Galerie 

Im 2. Stock der Galerie werden acht kleinere Arbeiten gezeigt. Hierzu geht der Besucher über einen Steg in den Ausstellungsraum.

Von diesem Steg blickt er auf die armdicken Befestigungsstränge der Wollfäden in den Saal hinunter. 

An der oberen Bildkante ist der Steg zu sehen. Von dort blickt der Besucher auf die armdicken Befestigungsstränge der Wollfäden in den Saal hinunter.

Zu sehen gibt es vier kleinere Skulpturen und vier wandhängende dreidimensionale Arbeiten.

Diese kleinen Arbeiten haben es schwer gegen die kolossale Installation im darunterliegenden Stockwerk anzukommen. 

Auf mich wirkten diese Kleinobjekte deshalb auch etwas kunsthandwerklich.

State of Being (Keys), 2016, 150x100x75 cm, Metal frame, keys, thread

Strange Home 1 und 2, Metal frame, thread, 2016

Skin, 2016, Thread on canvas, 166x153 cm

Am Ende wird alles zerschnitten

„Nach einer Ausstellung zerschneide ich die ganze Installation und sie existiert nicht mehr, so dass ich sie von neuem machen müsste. Meine Arbeit lebt nur in der Erinnerung der Menschen weiter.“ (2)

Welche Erinnerung wird von Uncertain Journey bleiben? Eine Reise ins Ungewisse?



Shiharu Shiota

Geboren 1972 in Osaka, Japan
Shiota studierte von 1992 bis 1996 an der Seika-Universität Kyōto.

1999 wechselte sie an die Universität der Künste Berlin und beendete ihr Studium dort 2003.

Von 2010 bis 2013 war sie Gastprofessorin an der Seika-Universität Kyōto und 2011 am California College of the Arts. (3)

Blain|Southern
CHIHARU SHIOTA | UNCERTAIN JOURNEY
17 September 2016 – 12 November 2016
Berlin

Galerie Blain|Southern
Potsdamer Straße 77–87
10785 Berlin
+49 (0)30 6449 31510
berlin@blainsouthern.com

Weiterführende Links:

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Chiharu Shiota, Uncertain Journey at Blain|Southern Berlin
Erklärungen der Künstlerin und Bilder vom Aufbau der Installation

Quellen:
    (1) Begleitmaterial zur Ausstellung. Chiaru Shiota im Gespräch mit Craig Burnett, Blain|Southern

    (2) Begleitmaterial zum Ausstellungsprojekt der Akademie der Künste Berlin mit dem Titel Uncertain States

    (3) Wikipedia

Sämtliche Fotos: Fred Tille

Obwohl meine Fotos nur allgemeine Ausstellungsansichten und keine expliziten, detaillierte Werkfotos zeigen, bitte ich die Urheberrechte der Künstlerin, Shiharu Shiota an ihren Werken zu beachten.

Courtesy of Galerie Blain|Southern