Privater Kunstblog zum Thema:

Künstlerisches Handeln in Zeiten globaler Umbrüche


Die Welt von heute scheint aus den Fugen geraten. Sie ist durch große Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Fragilität, Krieg und Flucht, Terror und Gewalt geprägt. Damit ist die Entwicklung unserer zukünftigen Lebenswelten wieder zu einem bedeutsamen Schwerpunkt in der Kunst geworden. Auch die Erkenntnisse und Prognosen der Techniksoziologie und der Zukunftsphilosophie werden zunehmend als Gegenstand der Kunst entdeckt. Die bildende Kunst, das Theater, die Literatur und der Film reagieren darauf auf unterschiedliche Art und Weise. Mich beschäftigt die Frage, wie kann sich der Künstler, der ja Teil dieser Entwicklungen ist, den sich daraus ergebenden existentiellen Herausforderungen sinnvoll nähern? In diesem Zusammenhang möchte ich meine Bilder aus der Zeit um 5 nach 12 in lockerer Folge vorstellen. Texte zu den globalen Auswirkungen des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ergänzen diese bildlichen Darstellungen. Über Reaktionen von Künstlern, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen, würde ich mich freuen.


Montag, 14. Dezember 2015

Noch 30 Jahre bis 2045 | Singularity-Was bleibt vom Menschen?

Auf einem Foto in seinem Buch Menschheit 2.0 trägt Ray Kurzweil, der Prophet des Transhumanismus, ein schmutziges Pappschild vor der Brust mit der Aufschrift: The Singularity is near (1). Ein selbstironischer Auftritt, der an einen Straßenprediger erinnern soll, der vor dem nahen Weltuntergang warnt und die Menschen zur Umkehr aufruft. Das Projekt der Singularität ist in seiner Konsequenz aber alles andere als lustig. 



Singularity und Transhumanismus: Die gefährlichsten Ideen der Gegenwart


Singularity, kennzeichnet den Zeitpunkt, an dem Maschinenintelligenz die Gesamtheit der menschlichen Intelligenz überschreiten und deshalb jede weitere Zukunftsvorhersage unmöglich wird. Die technologische Neuerungsrate überschlägt sich so exponentiell, dass die Menschen die technische Fortentwicklung nicht mehr nachvollziehen und vorhersagen können. Die künstliche Intelligenz ist dann in der Lage auch und gerade ohne Zutun des Menschen sich selbst umzugestalten.

Die Absichten dieser superintelligenten Kraft sind dem Menschen dann nicht mehr voll zugänglich und Entwicklungen auch nicht mehr zuverlässig steuerbar. Maschinen übernehmen das Denken, der Mensch transzendiert sein Dasein. Kritiker stellen die berechtigte Frage: Was passiert, wenn diese künstliche Intelligenz außer Kontrolle gerät und diese nicht besonders zuvorkommend mit den Menschen umgeht? Der Mensch 2.0 ist dann selber unter die Objekte der Technik geraten. Ray Kurzweil prognostiziert diese exponentielle Zunahme der informationstechnologischen Entwicklung für das Jahr 2045.  

Mensch 2.0

Kurzweil ist der Hauptverfechter des Singularity - Konzepts und er ist keineswegs ein futuristischer Wirrkopf. Er gilt als anerkannter Zukunftsforscher und ist Chefentwickler bei Google. Bill Gates bezeichnet ihn als besten Futurologen der Gegenwart. Dennoch wird der Transhumanismus häufig als Religion der Digital Natives und Nerds abgetan. Dem ist aber nicht so. Einige der vermögendsten, technikaffinen und einflussreichsten Unternehmer und Wissenschaftler im Silicon Valley haben sich dem Konzept der Singularity verschrieben. Sie glauben, dass allein Technologie die Probleme der Welt lösen kann. Zugleich erlaubt der technologische Fortschritt der Menschheit die Kontrolle über die eigene Evolution zu übernehmen. Gegen diesen Denkansatz hat sich Ende 2004 der US-amerikanische Politikwissenschaftler Fukuyama ausgesprochen und den Transhumanismus als die gefährlichste Idee der Gegenwart bezeichnet.

Im folgenden YouTube Beitrag könnt ihr euch ein aufschlussreiches Statement von Kurzweil zur Zukunft der menschlichen Spezies im Rahmen des Kongresses GlobalFuture 2045 mit Übertiteln in englischer Sprache ansehen.



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2045 - Schöne Neue Welt ? Unsterblichkeit und Mensch 2.0?

Bis zum Jahr 2045 soll der Mensch seine biologischen Grenzen überwunden haben. Möglich werden soll das durch die zunehmende Verschmelzung von Mensch und Technik. Diese neue Hybridform zeichnet sich durch verbesserte geistige Fähigkeiten aus und ihre Zellstruktur wird dank körpereigener, antioxidativ wirkender Nanoroboter laufend regeneriert.

Nanoroboter

Die radikalen Anhänger des Transhumanismus, zu denen auch Kurzweil gehört, denken noch weit darüber hinaus. Ihr Ziel ist es, die Einheit von Körper und Geist ganz aufzulösen. Sie hoffen, dass es uns künftig gelingt, unser Wissen, unsere Fähigkeiten und unsere Persönlichkeit zu digitalisieren. Dieses digitale Ich könnten wir dann in beliebige virtuelle Körper und virtuelle Welten hochladen. So könnten wir ewig leben und wären nicht mehr auf unsere sterbliche Hülle angewiesen.

Das Projekt der Singularität verfolgt damit nichts anderes als die Abschaffung der Menschheit, so wie wir sie kennen.Das Ende des Menschen als körperliches Wesen aus Fleisch und Blut, mit Selbstbewußtsein und Seele. Im Ergebnis dieser genetisch-technologischen Revolution würde der Mensch 2.0 nach Ansicht der Transhumanisten einen uralten Menschheitstraum verwirklichen: Unsterblichkeit!

Singularity

Die Singularity Universität als Think Tank für Transhumanismus und Posthumanismus


Diese superintelligente Menschmaschine, die durch mind-uploading intelligenter, schneller, effektiver und widerspruchsfreier agieren soll als der alte Mensch 1.0 zu konstruieren, bedeutet noch sehr viel Arbeit und verschlingt auch sehr viel Geld.
Deswegen hat Kurzweil 2008 im Silicon Valley die Singularity University unter tatkräftiger Mithilfe von Google und der Weltraumbehörde Nasa gegründet.

An der Transhumanismus-Hochschule studieren neben Studenten auch Manager und Politiker. Sie werden im exponentiellen Denken geschult. Die Quellen für ihre Visionen finden die Transhumanisten in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung.
Auf dem Lehrplan der Elite-Uni, die außerordentlichen Zuspruch erhält, stehen folglich Informatik, Robotik, Neurowissenschaften, Luftfahrt, Nanotechnologien, Jura, Statistik, aber auch praktische Übungen in Schwerelosigkeit.

Aus Tausenden Bewerbern, die bereit und in der Lage sind für einen zehnwöchigen Kurs 25.000 US-Dollar auszugeben, kann die Singularity University jährlich achtzig Studenten auswählen. Die Lehrenden und Lernenden verstehen sich als Think Tank der technologischen Elite und zugleich als globale Botschafter ihres futuristischen Weltbildes. Ray Kurzweil ist mit seinen Ideen bis ins Weiße Haus vorgedrungen. Das bekannte Brain Project von Präsident Obama basiert nicht zuletzt auf Kurzweils Visionen. 

Cyborg


Wird der nächste US-Präsident ein Cyborg sein (2)?Drei Schritte auf dem Weg zu einer transhumanistischen Gesellschaft


In enger Zusammenarbeit mit der Singularity University leiteten die Anhänger des Transhumanismus in den USA im Jahr 2014 drei Schritte auf dem Weg zu einer transhumanistischen Gesellschaft ein.

  • Der Start des Google-Biotechnologieprojekt Beendet das Altern und besiegt den Tod
  • Die Intensivierung der BRAIN-Initiative von Präsident Obama (Brain-Computer-Interfaces)
  • Die Gründung der Transhumanistischen Partei in den USA  

Die Botschaft lautet: Die Technik wird alles lösen, sie ist in ihrem unaufhaltsamen und teilweise unumkehrbaren Fortschritt der universelle Hebel zur Lösung der globalen Menschheitsprobleme.
Damit will sich die radikale internationale Technikcommunity in das Ringen um konkrete politische Macht einschalten und die Ideen des Transhumanismus zu einem dauerhaften politischen Faktor in der öffentlichen Wahrnehmung etablieren.

Roboter


Der Wolf im Schafspelz und das Prinzip Verantwortung


Stefan Lorenz Sorgner, ein bekannter deutscher posthumanistischer und transhumanistischer Philosoph, äußerte sich in einem Zeit-Interview (3): "Zunächst einmal ist die Verschmelzung von Mensch und Technik eine Entwicklung, die bereits stattgefunden hat. Wir sind ja schon Cyborgs, diejenigen etwa, die einen Herzschrittmacher tragen. Mit dem technischen Fortschritt gehen enorm viele Facetten einher, die unser Leben einfach lebenswerter machen und unsere Lebensspanne unglaublich erweitert haben. Aus transhumanistischer Sicht lautet die Überlegung also: Warum sollte diese Entwicklung aufhören?"

Mit dieser unverfänglichen Argumentationskette beginnt fast jeder Transhumanist seine Überzeugungsarbeit. Welcher vernünftige Mensch sollte etwas gegen Herzschrittmacher oder Exoskelette haben, die Querschnittsgelähmten neue Möglichkeiten der Mobilität eröffnen. Was der Wolf im Schafspelz meistens nicht beantwortet, ist die Frage, was am Ende dieser Entwicklung steht und was vom Menschen bleibt.

Die Verschmelzung

Und die Entwicklung ist bereits weitergegangen. Die Firma Alcor in Scottsdale, Arizona (USA) offerierte bereits 2004 für 120.000 Dollar die kryonische Aufbewahrung des ganzen Körpers. Wer an die Rekonstruktion des Körpers mit künftiger Gentechnik oder an das Mind uploading in künftige Supercomputer glaubt, kommt preiswerter weg: Haltbarmachung des Gehirns bis zur Wiederbelebung kostet nur 50.000 Dollar.


Angesichts der schnellen Fortschritte in der Biotechnologie wird es bald künstlich erzeugte Ersatzorgane, spezielle Medikamente, Roboter und künstliche Gliedmaßen geben, die das Leben erheblich verlängern werden. Fortschritte, die sich nur die Vermögenden und Reichen dieser Erde werden leisten können. Und damit stellt sich die Frage nach einer Zukunft, in der zwischen den Gesellschaftsschichten eine biologische Kluft aufbricht und in der sich die Superreichen zu einer völlig neuen Spezies entwickeln können, die mindestens 20 Jahre länger lebt und folglich auch länger aktiv ist.

Die Entwicklung von Technik und Wissenschaft zeigt, dass das, was technisch machbar ist, auch unaufhaltsam vorangetrieben wird. Aus technologischer Sicht können wir die Grenzen des künftig Machbaren kaum setzen. Müssen wir nicht aus moralischen Gründen Grenzen setzen?
Theologen und Technikphilosophen setzen deshalb auch ihre fundamentale Kritik transhumanistischer Positionen an deren ethischen Defiziten und blinden Flecken in ihren Argumentationslinien an.

Ein Androide entsteht

In einem der bedeutendsten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts Das Prinzip Verantwortung-Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation hat Hans Jonas (1903-1993) bereits 1979 eine Antwort auf die spezifisch neuen ethischen Herausforderungen der technologischen Zivilisation gegeben. Er sprach sich für eine Heuristik der Furcht beim Betreten des Neulands Hochtechnologie aus. Für die ethische Theorie war dieses Neuland damals noch ein Niemandsland, das nach und nach theoretisch und philosophisch erschlossen werden musste. Dieser kritische Prozess dauert bis heute an.

Auch die Transhumanisten kennen die Probleme, die mit den neuen ethischen Herausforderungen der technologischen Zivilisation einhergehen und setzen sich mit ihnen auseinander. Dennoch sehen sie im Fortschritt letztlich mehr Vor- als Nachteile, weshalb sie davon ausgehen, dass sich diese bereits fortgeschrittenen Entwicklungen durchsetzen werden. Ihrer Auffassung nach müssten die Menschen vielmehr lernen, mit den damit verbundenen Schwierigkeiten und Risiken umzugehen.
Das Argument der Selbstüberschätzung lassen sie nicht gelten und Kritiker ihrer Positionen werden oftmals unter den Generalverdacht der ewig Rückständigen gestellt.

Prometheus noch gefesselt

Zum Abschluss möchte ich deshalb Hans Jonas zitieren: "Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie bekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden (4)."

In 30 Jahren vielleicht.

Heuristik der Furcht

Notes:

(1) Diesen Link habe ich nur eingefügt, um auf das im Post genannte Foto von Ray Kurzweil zu verweisen. Die website GarmaOnHealth von Joe Garma enthält ansonsten eine sehr private Sicht und Interpretation auf die Wege zu einem vitalen Leben.
Discover how to get stronger, look better and live longer! wie es von Joe Garma vertreten wird, entspricht nicht unbedingt der Meinung des Autors.

Ein Interview mit Zoltan Istvan veröffentlicht in WIRED :
Autor: Max Biederbeck, 07.11.2014.
Istvan ist ein prominenter Verteter des Transhumanismus, Autor des kontrovers diskutierten Sience-Fiction-Romans The Transhumanist Wager und Spitzenkandidat seiner eigenen Partei, der Transhumanistischen Partei der USA.
Das online Magazin WIRED stellt regelmäßig die interessantesten Artikel des Internets aus Technologie, Kultur, Wissenschaft, Business und Design zusammen.

Ein Gespräch mit dem Philosophen Stefan Lorenz Sorgner, der auf die großen Vorzüge eines digital getunten Körpers setzt.
Von Judith E. Innerhofer
Editiert am 13. Mai 2013, DIE ZEIT Nr. 20/2013

(4) Quelle: Das Prinzip Verantwortung-Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Suhrkamp Taschenbuch 1085, S.7

Weiterführende Links:

Über Ray Kurzweil:
Die Ökonomie der Kurzweilschen Unsterblichkeit erklärt sich gut durch einen Besuch beim Onlineshop Ray and Terry’s

TELEPOLIS | heise online:

Die offizielle Website: What is Singularity University?
Die Singularity University im amerikanischen Silicon Valley soll sich nach den Vorstellungen seiner Gründer mit dem künftigen Einsatz von Zukunftstechnologien beschäftigen und die herkömmliche, akademische Ausbildung ergänzen. 

Ein guter Überblick zu den Fragen: Sind transhumanistische Zukunftsprognosen über die technologische Entwicklung realistisch, und welche ethischen und anthropologischen Konsequenzen ergeben sich daraus.

Stefan Lorenz Sorgner ist ein deutscher posthumanistischer und transhumanistischer Philosoph, ein Nietzsche-Forscher, Musikphilosoph und ein Experte im Bereich der Ethik der neuen Technologien. (Quelle: Wikipedia )

Sie bezeichnen sich als die erste Partei der säkularen und evolutionären Humanisten. Nach eigener Aussage stellen sie den Menschen über Dogmen und Ideologien. Sie setzen sich für die individuelle Freiheit, eine soziale Gesellschaft und wissenschaftlichen Fortschritt ein.

Das Prinzip Verantwortung. Einen guten Überblick über Thesen und Aufbau des Buches sowie eine Kritik und Würdigung dieser philosophischen Ethik gibt der folgene Eintrag bei Wikipedia.

Sämtliche Illustrationen: Fred Tille

Montag, 26. Oktober 2015

Der Löwe ist los! Peter Doig in Venedig

Wenn der Betrachter in den Bilderkosmos eines Peter Doig eintaucht, erlebt er eine Welt, die in ihrer Art einen ganz eigenen Sog entwickelt. Doig zeigt zwar reale Motive, die er aber jenseits eines platten Realismus ins Rätselhafte und Geheimnisvolle übersetzt. Mit einer Auswahl neuer Werke war Doig, einer der bekanntesten und teuersten Künstler unserer Zeit, in einer Einzelschau während der Biennale di Venezia 2015 in der Galleria der Fondazione Bevilacqua la Masa mit vielen neuen Werken vertreten.


Zwei Begegnungen mit Peter Doig


Das erste Mal begegnete ich dem Werk Doigs 2009 in der Berliner Galerie Contemporary Fine Arts.
Unter dem Titel Peter Doig -not for sale zeigte die Einzelausstellung eine Auswahl von Bildern der letzten 20 Jahre aus deutschen Museen und internationalen Privatsammlungen. Für Peter Doig war es nach 10 Jahren seine erste Einzelausstellung in Berlin und dementsprechend war das Publikumsinteresse sehr groß. Kernstück der Galerieausstellung waren 140 Filmplakate, die Doig für seinen wöchentlichen Studiofilmclub in Port of Spain, Trinidad, gemalt hat. Contemporary Fine Arts präsentierte sie zum ersten Mal vereint.
Der Künstler ist ein großer Filmfan und den Filmclub hatte er betrieben, um dem Publikum Filme zu zeigen, die es sonst dort nie zu sehen bekommen hätte. Einmal die Woche wurden in seinem Atelier in einer alten Rumfabrik Avantgardefilme, Klassiker und karibisches Kino präsentiert.
Die dazu von Doig gemalten jeweils aktuellen Poster sind ganz anders als seine Gemälde schnell und spontan entstanden. Er gibt dabei nicht etwa eingängige Filmszenen wieder, sondern Assoziationen, die er bei Filmen wie Taxi Driver oder Blue Velvet hat. Seine Filmplaklate kommentiert Doig so: 
Wenn wir ein Bild betrachten, versuchen wir, dem Alltäglichen zu entkommen.

Über diese unscheinbare Treppe betritt der Besucher die historischen Räume des 

Das zweite Mal begegnete ich dem Werk Doigs 2015 in Venedig. Die Fondazione Bevilacqua La Masa zeigte im Palazzetto Tito 14 Arbeiten, die Doig in den letzten drei Jahren produziert hatte und die bisher noch nicht in der Öffentlichkeit zu sehen waren. Es war die erste Solo-Präsentation des Künstlers in Italien in Verbindung mit der Biennale in Venedig. Der Künstler selbst hatte vor Jahren den Wunsch geäußert in den Räumlichkeiten des Palazzetto Tito eine Solo - Exhibition zu präsentieren. Wunderbar verteilt in den historischen Räumen des Palazzetto, zeigt Doig neue, auf Trinidad entstandene Bilder. Entsprechend exotisch die Motive, türkisfarbenes Meer, traumhafte Figuren, cobaltblau der Himmel.
Hier eine Auswahl der gezeigten Bilder.

Night Studio, 2015, Oil on Canvas, 296x200cm

Rechts: Speaker/Girl, 2015, Oil and distemper on canvas, 295x199,5cm


Von Kanus und Löwen


Kanus sind ein zentrales und wiederkehrendes Motiv im Werk Doigs. Kanus malt er bereits seit Ende der achtziger Jahre: Sein wichtigstes Motiv, das er seit 1990 immer weiter variiert hat. Das wohl berühmteste Kanubild heißt White Canoe. Nach eigener Aussage hat er das Motiv dem legendären Horrorfilm Freitag der 13. entnommen. In dessen Schlussszene träumt die letzte Überlebende eines Ferienlagermassakers, wie sie in einem weißen Kanu auf einem glatten See treibt, in dem sich die Herbstlandschaft horizontal spiegelt. In der Spiegelung durchdringen sich Innen- und Außenwelt, Fiktion und Realität. Die Figuren wirken oft wie ausgesetzt und verlassen in irrealen Umgebungen. So bildet auch in seinem Werk Echo Lake eine Filmszene aus demselben Horrorfilm die Bildbasis. Doigs Version zeigt einen Mann, mit den Armen einen Schalltrichter formend, allein am Ufer eines Sees, hinter ihm ein Streifenwagen. Nach wem ruft dieser Mensch, was war vorgefallen und was wird folgen?
Eine sehr gute Gegenüberstellung der filmischen Inspirationsquellen von White Canoe und Echo Lake ist im Vergleich mit Filmstills aus Freitag der 13. auf der Website von Claire Cameron zu finden (Text in Englisch/English Version).
Die atmosphärische Dichte der ein wenig unheimlichen Szenen ist eine Qualität der Bilder, die zerlaufenden Farben und Übermalungen betonen das Befremdliche und Unerklärliche daran. 

Von Kanus und Löwen: Zwei Kleinformate in der Ausstellung zeigen die Motive exemplarisch





Spearfishing, 2013, Oil on linen, 288x200cm, Venedig

Auch in Venedig begegnen wir diesen Motiven wieder. Neben den Kanubildern gibt es auffällig viele Löwenbilder. Insgesamt habe ich vier Bilder mit einem Löwen gezählt. Allerdings haben sie nichts mit dem venezianischen Wappentier zu tun-wie man angesichts der Örtlichkeit - vielleicht annehmen könnte. Tatsächlich liegen die Inspirationsquellen in Trinidad. Hierzu schreibt der Künstler: Ich habe viele Fotos von den Löwen im Zoo in Trinidad gemacht - dem ersten Zoo mit dem ich als Kind aufgewachsen bin. Es hat sich nicht viel geändert. Die Idee für den Löwen kommt von Darstellungen des Rastafarischen Löwen von Juda, die ich an den Wänden von Gebäuden, verzinkten Zäunen und T-Shirts in Port of Spain gesehen habe. Ich habe mich auf die verschiedenen Interpretationen dieser mythischen Figur bezogen. (1) Bei Rain in the Port of Spain wird die gelbe Gefängnismauer von Port of Spain zur Wand eines Käfigs, in dem ein Löwe lauert, eine schemenhafte Figur tritt hinzu, in der Ferne setzt ein Leuchtturm ein Signal – eine surrealistische Szenerie, die an de Chirico erinnert. 

Links: Young Lion, 2015, Oil onlinen, 121x162cm | Rechts: Rain in the Port of Spain (White Oak), 2015, Distemper on linen, 301x352cm

Lion in the Road, 2015, Oil and distemper on linen, 200x276cm

Einsam, verlassen, unheimlich. Der Bilderkosmos von Peter Doig


Die Werke Peter Doigs sind fantastische Expeditionen in eine wunderbare Welt. In ihr blüht die Natur in kraftvollen Farben. Allerdings nur vordergründig. Doig geht es nicht um den Entwurf eines Paradieses. Er sucht in seiner Kunst die Nähe zu jener Grenze, hinter der das Bedrohliche lauert. Überall verbergen sich auch Schatten und Abgründe, welche die Individuen in ihrer vermeintlichen Idylle bedrohen. Realität und Absurdität sind eng miteinander verbunden. Seine Bilder behandeln Stadien des Übergangs. Wasser als die schillernde Oberfläche der Unterwelt, das Boot als Symbol des Übertritts in ein Schattenreich, aber auch das für Doigs Landschaftsbilder typisch Schemenhafte der Figuren suggeriert die Existenz von seelischen Dunkelzonen. Es sind Gegenwelten zu einer desillusionierten Gegenwart, die Doig entwirft. Darin steckt auch ein Stück Gesellschaftskritik des Künstlers. Folgerichtig antwortet Doig auf die Frage, ob insbesondere seine mysteriösen Landschaftsbilder etwas Unheimliches und im Irgendwo lauernde Gefahren beinhalten: 
Unsere Welt ist dunkel und gefährlich. Als Künstler kann man das nicht ignorieren.

Rechts: Horse and Rider, 2014 Oil and distemper on canvas, 240x360cm


Peter Doig

Peter Doig ist ein schottischer Maler, der 1959 in Edinburgh geboren wurde.
Seine Kindheit war vor allem durch häufige Umzüge geprägt.
1962 zog die Familie nach Trinidad, 1966 dann nach Kanada.
Im Jahr 1979 ging er nach London. Er interessierte sich für ein Studium als Bühnenbildner, entschied sich dann aber für Malerei und studierte an der Wimbledon School of Art, von 1980 bis 1983 an der St Martin’s School of Art (Abschluss als B.A.), von 1989 bis 1990 am Chelsea College of Art and Design (Abschluss als M.A.).
Von 1995 bis 2000 war er Kurator der Tate Gallery in London.
Im Jahr 2002 übersiedelte er mit seiner Frau Bonnie und den fünf Kindern nach Port of Spain, Trinidad.
Seit 2005 ist er Professor für Malerei an der Kunstakademie Düsseldorf. (2)

Hollands Deep & 1-2-3-4
C/O Galerie in Berlin


Ausstellung:
05/05-04/10/2015
Peter Doig
Fondazione Bevilacqua La Masa
Palazzetto Tito
Venedig

Palazetto Tito | Venedig

Weiterführende Links:

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Interview mit Peter Doig: Famous artists' are quickly forgotten' | YouTube/05.00





Quellen: (1) Galerie Michael Werner/Übersetzung: Fred Tille
             (2) Wikipedia

Sämtliche Fotos: Fred Tille

Obwohl meine Fotos nur allgemeine Ausstellungsansichten ohne explizite, detaillierte Werkfotos zeigen, bitte ich die Urheberrechte des Künstlers, Peter Doig, an seinen Werken zu beachten.

Courtesy of Fondazione Bevilacqua La Masa
Palazzetto Tito





Sonntag, 27. September 2015

All the World´s Futures – Impressionen von der Biennale di Venezia

Unter dem Titel All the World´s Futures findet vom 09. Mai bis zum 22. November 2015 die 56. Biennale di Venezia statt. Die Biennale ist ein Festival der Kunst und die wichtigste Weltkunstschau des Jahres. Okwui Enwezor ist der Kurator der internationalen Ausstellung All the World´s Futures, die im Zentralpavillon der Giardini und im Arsenale stattfindet. Gezeigt werden über 700 Werke von 135 Künstlern, die den Zustand der Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln erfassen sollen.


Wenn die Gondeln Künstler tragen


Vom 15.07. bis 24.07.2015 habe ich die Biennale di Venezia besucht. Zunächst möchte ich euch Impressionen aus meinem Rundgang durch die Hauptausstellung in den Arsenale-Hallen vorstellen. Dabei folge ich räumlich dem angebotenen Ausstellungsparcours und illustriere ihn mit den entsprechenden Bildern. Bei den meisten Künstlern habe ich weiterführende Linkempfehlungen eingefügt. Meine Blickwinkel und die Auswahl sind total subjektiv und erheben keinen repräsentativen Anspruch. Dennoch- so hoffe ich- könnt ihr euch ein Bild von der Biennale machen.


Wegweiser zum Arsenale

700 Kunstwerke, 136 Künstler, 89 Nationenbeiträge, 44 Colleteral-Events. Wie bewältigt man dieses Kunstlabyrinth in Venedig?


Für diese Frage hat Enwezor folgenden Ratschlag bereit: „Ich sage immer, man kann die Venedig-Biennale nicht sehen, man muss sie scannen. Ich wüsste nicht, wie man das anders machen soll. Ansonsten empfehle ich die alte DOCUMENTA-Formel: drei Tage einplanen.“
Aus eigener Erfahrung kann ich ergänzen: sechs bis neun Tage sind besser. Und gute Vorbereitung ist alles. Man muss mit einer „must have seen-Liste“ in die Ausstellung starten. Und die Augen offen halten. Es gibt viele unerwartete Kunstüberraschungen über die ganze Lagunenstadt verteilt.

Gibt es mehr als eine Zukunft für unsere Welt?


Der Titel All the World´s Futures suggeriert, dass es mehr als eine Zukunft für unsere Welt gibt. Der Titel soll wie ein Rahmen funktionieren, innerhalb dessen sich die Künstler artikulieren können. Enwezor spricht von einer künstlerischen Auseinandersetzung über die „Lage der Dinge.“ Dahinter steckt die Absicht des Kurators zu erkunden, ob die Zukunft unseres Planeten aus der Sichtweise Afrikas, Asiens, Amerikas und Europas zu denken ist. Dazu hat er Künstler aus allen Weltregionen eingeladen.
Die Welt von heute scheint aus den Fugen geraten. Sie ist durch große Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Fragilität, Krieg und Flucht, Terror und Gewalt geprägt. All the World´s Futures ist der Versuch über Trümmer und Überreste nachzudenken. Damit nimmt sich die Biennale der Übel der Welt an und ist eine explizit politische Kunstausstellung.



Düsterer Auftakt


Der Eröffnungsraum des Arsenale ist abgedunkelt. Macheten-Blumensträuße in Kombination mit Neonarbeiten von Bruce Naumann empfangen den Besucher. Die wechselseitig aufleuchtenden Neonbotschaften Tod, Schmerz, Krieg tauchen den Raum in flackerndes, unruhiges Licht, in dem die Macheten aufblitzen. Der Algerier Adel Abdessemed hat Macheten zu Sträußen zusammengesteckt, auf dem Boden verteilt und nennt das Werk Nympheas, frei nach Monets Seerosenbildern. Obwohl die Macheten in scheinbar harmlose Blumensträuße verwandelt wurden, entsteht eine Atmosphäre eingefrorener latenter Gewalt. Ein düsterer Auftakt, der sich in den nächsten Räumen fortsetzt.

Neoninstallation von Bruce Naumann. Human Nature, Life Death, Know, doesn´t Know, 1983

Macheten und Kanonen


Die Kanone von Pino Pascali setzt das kriegerische Entree fort. Im Jahr 1965 hat der Künstler eine Serie von Arbeiten zum Thema Waffen angefertigt. Pascali hat dafür durch die Montage von Spielzeug, Resten von Hydraulikschläuchen und Metallschrott Skulpturen geschaffen, die von der Erscheinung zu Waffen wurden. Waffen sind Träger des Todes. Indem Pascali sie aus Schrottstücken und Spielzeug erschafft, sind diese Waffen aber unbrauchbar, obwohl sie täuschend echt wirken. Mit diesem Verfremdungseffekt konterkariert er Militarismus und hohlen Heldenpathos. So besteht die hier gezeigte Mobile Kanone (Cannonne Semovente) aus Holz und Altmetall. Die Cannonne Semovente ist zwar auf die aufgetürmten Trommeln, den Muffled Drums, von Terry Adkins gerichtet, könnte sie aber nicht wirklich unter Beschuss nehmen. Damit wird das kriegerische Entree ironisch aber dennoch kritisch etwas gebrochen. Im Hintergrund ist bereits der Durchgang zu Katharina Grosses Installation Untitled Trumpet zu sehen.

Pino Pascali, Cannonne Semovente, Skulptur aus Holz, Altmetall, 1965
Terry Adkins, Muffled Drums, 2003


Untitled Trumpet


Für die 56. Venedig Biennale hat Grosse unter dem Titel Untitled Trumpet eine riesige begehbare Malerei/Installation in den Arsenale - Hallen realisiert.
Untitled Trumpet ist ein Kunstraum, der aus besprayten Stoffbahnen und Schuttbergen gestaltet ist. Wie bei Grosse üblich erfassen die großflächigen Farbverläufe alle Bestandteile der Installation.
Grosses Beitrag bildet nach dem düsteren Auftakt in den vorhergehenden Räumen eine überraschende Farbinsel.
Wie lässt sich Grosses Untitled Trumpet mit dem diesjährigen Leitthema der Biennale All The World’s Futures interpretieren? Um der Künstlerin gerecht zu werden eigentlich nur dadurch, dass jeder Betrachter seine Assoziationen zum Kunstwerk im Dialog mit dem Rahmenthema abgleicht.
Für viele vom Rundgang durch die internationale Ausstellung erschöpfte Besucher ist die Farbinsel einfach ein willkommener Ort der Erholung und Kontemplation. Andere sehen All The World’s Futures durchschimmern, indem sie Schutthaufen, Zerstörung, Krieg und Leichentücher assoziieren. Oder verweist Untitled Trumpet nach all der Weltrettungskunst und zentraler Marx-Lesung aus dem „Kapital“ nur auf pure Ästhetik als Gegenpart zur Politkunst? Anything goes!
Hauptsache die Farbe ist frei!

Im Kontext mit Kanone, Macheten und den Neonbotschaften Life, Death, Love, Hate, Pleasure und Pain empfand ich persönlich für die Installation eher einen Bezug zum Leitgedanken der Ausstellung. Die Schuttberge erinnern an Krieg, Erdbeben, Zerstörung. Eine Welt aus den Fugen. Der Farbüberzug symbolisiert für mich die in der westlichen Welt häufig anzutreffende Verdrängung der globalen Problemlagen bzw. eine oberflächliche Betrachtungsweise der Lage der Dinge. Farbe übertüncht und verharmlost bewusst den Ernst der Lage. Die Freiheit der Farbe, die Ästhetisierung von Zerstörung als Antwort auf die drängenden Probleme unserer Zeit?


Hauptsache die Farbe ist frei! 


Die Räumlichkeit für Grosses Installation Untitled Trumpet war nach meinem Empfinden suboptimal gewählt. Es war ein typischer Durchgangsraum mit einem wegen der Hitze geöffneten Seitenausgang. Tageslicht fiel herein und störte die Lichteffekte der Installation. Schließlich endete die Freiheit der Farbe am Feuerlöscher (unteres Bild).

Venedig - Kettensägen - Massaker


Die von der Decke hängenden Kettensägen von Monica Bonvicini reihten sich nathlos in die bedrückende Stimmung ein. Monica Bonvicini ist eine italienische Künstlerin und Hochschullehrerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Wien. Materialien wie Latex, Leder, Stahl und Beton, die durch ihre Beschaffenheit zu Vermittlern gesellschaftlich verhafteter Assoziationen werden, setzt sie in unerwartete Kontexte und stellt somit neue Verknüpfungen her. Auch in ihrem Werk Latent combustion stellt sie ungewöhnliche Zusammenhänge her. Die verklumpten Kettensägen sind mit einer teerähnlichen Masse überzogen und damit eigentlich unbrauchbar. Dennoch wirken die massigen, dunklen Klumpen latent gefährlich. Unwillkürlich assoziiert man Splatterfilme wie das Texas Chainsaw massacre und überlegt was passieren würde, wenn den falschen Personen die Sägen in die Hände fallen würden.
Nach der künstlerischen Intention schlummert in den Kettensägen Hitze, die freigesetzt einen Brand entfachen kann.

Monica Bonvicini, Latent combustion, Chainsaws, black polyurethane, matt finish, steel chains, 2015



Ashes - Ein Fischer, die Drogen und der Tod


An der Koje mit der Videoinstallation Ashes von Steve McQueen kann der Besucher leicht vorbeigehen, ohne sie bemerkt zu haben. Sie liegt ziemlich unauffällig am Rande eines der großen Räume der Arsenale-Fluchten.
Die Monitore sind Rückwand an Rückwand montiert, so dass der Betrachter von seinem jeweiligen Standort immer nur eine Sequenz wahrnehmen kann. Auf der einen Seite ist eine Daueraufnahme von Ashes, einem jungen Fischer, in Rückenansicht auf einem Boot im Meer zu sehen. Die andere Monitorseite zeigt zunächst große Detailaufnahmen von Arbeiterhänden, die mit Werkzeugen eine Steinplatte bearbeiten. Mehr und mehr zoomt McQueen das Bild auf und der Betrachter erkennt, dass die Handwerker eine Grabstätte herrichten. Das Grab von Ashes, der auf der Rückseite mit seinem Boot im Ozean schwimmt.

Bei Steve McQueen gibt es für die Besucher ein Poster zum Mitnehmen


Das Poster ist beidseitig mit Ashes Rückenansicht bedruckt, die auch als Daueraufnahme auf dem Monitor zu sehen ist. Auf der einen Seite des Posters ist das Bild mit der Geschichte des jungen Mannes überdruckt. Es geht um den Tod von Ashes, einen jungen Fischer, der auf der Insel Grenada in einen Drogenkrieg gerät. Durch Zufall findet er ein Drogenpaket, das er für sich behält. Damit will er seine Sehnsucht nach einem besseren Leben finanzieren. Doch die Drogenbesitzer spüren ihn auf und fordern die Drogen zurück. Ashes weigert sich und auf der Flucht vor den Dealern erschießen sie ihn von hinten. Der Traum vom besseren Leben endet im Tod.

Der Himmel hängt voller Menschen


Der türkische Künstler Kutluğ Ataman hat einen raumgreifenden Baldachin aus vielen kleinen LCD Bildschirmen aufgehängt. Gezeigt werden Menschen, die in Beziehung zu dem Industriellen und Wohltäter Sakip Sabanci (1933-2004) standen. Mit seinem LCD - Himmel will Ataman an das soziale Engagement des Industriellen erinnern. Nach dem Zufallsprinzip werden die Köpfe ständig durch andere ersetzt. Ein flirrendes Meer aus tausenden Bildern zeigt sich dem Betrachter. Die Flüchtigkeit menschlicher Identität wird so thematisiert.
Sakıp Sabancı gründete im Jahr 1967 die Sabancı Holding. Sakıp Sabancı initiierte viele soziale Einrichtungen in der Türkei, zu denen eine Universität, Schulen, Kindergärten, Kinderdörfer, Behindertenschulen und ein Sozialrentenfonds gehören. Er war unter anderem auch einer der größten Kunstmäzene der Türkei. Sabancı hinterließ ein Vermögen von 2,65 Milliarden Euro.

Kombiniert wird dieser Portraithimmel mit einer Auswahl von Fotografien von Chris Marker, die Menschen als Passagiere, also auch in einem flüchtigen, instabilen und vorübergehenden Zustand, zeigen. Zwischen den in sich ruhenden Fotografien von Marker und den ständig wechselnden Bildern von Ataman bildet sich ein produktives Spannungsverhältnis. Stille Bilder treffen auf optisches Rauschen.

Kutluğ Ataman, The Portrait of Sakıp Sabancı, Installation, 2014
Chris Marker, Passengers, 2011, 134 Fotografien


Kein Papst in Avignon


Das Finale in den Arsenale-Fluchten liefert Georg Baselitz mit acht monumentalen Leinwänden.
Kein Papst in Avignon ist einer der Titel einer Serie von acht Selbstportraits von Georg Baselitz.
Es handelt sich um seine aktuellsten Werke. Das letzte Bild der Serie war gerade noch rechtzeitig zur Eröffnung fertig geworden. Nach eigenen Worten will Georg Baselitz den Alterungsprozess des Körpers durch frische, aufmunternde Farben und durch Verzicht auf räumliche Illusionen in Kontrast setzen. Deshalb sind die Bilder auch "flach" gemalt. Sie haben weder als Motiv noch im Bildraum eine körperliche Dreidimensionalität.
Jeweils eine nackte Figur kopfüber auf schwarzem Grund. Damit bleibt Baselitz, der im Prinzip seit 1969 seine Bilder verkehrt herum malt, seinem Markenzeichen treu. Georg Baselitz hat so für sein malerisches Werk einen einzigartigen Wiedererkennungswert geschaffen.
Im Ausstellungsparcours der Arsenale-Hallen ist nach seinen Entwürfen ein im Grundriss aufgeschnittener Oktaeder gebaut worden. Hierdurch ist eine Art Kathedrale für die Präsentation der Werke von Baselitz entstanden, die von der darum liegenden Ausstellungshektik abgeschirmt ist. 

Grenzenloser Traum


Auf dem Arsenale - Gelände gibt es auch Länderpavillons, von denen ich einige vorstellen möchte.
Ich beginne mit dem Pavillon der Republik Kosovo. In einem winzigen, begehbaren Raum lässt die junge Künstlerin Betonmauern in azurblauen Sand zerbröseln. Von den Grenzsperren bleiben nur die Armierungseisen stehen. In den Farben des Tages von Sonnenauf- oder -untergang wird der Raum beleuchtet und mit dem Wechsel der Lichtstimmungen erlebt der Betrachter im Laufe des Tages ein allmähliches Verschwinden der Grenzen. Bei Flaka Haliti handelt es sich um eine Fortführung ihrer Auseinandersetzung mit Grenzen, Sehnsüchten, Sehnsuchtsorten. Das Blau ist in ihrem Fall konkret der Corporate Identity der Vereinten Nationen entnommen.
Die Künstlerin ließ blauen Sand auf dem Boden des kosovarischen Pavillons aufschütten, und die Sandkörner sollen während der gesamten Biennale-Laufzeit von den Besuchern in den Rillen ihrer Schuhsohlen weitergetragen werden. „So wird meine Arbeit allmählich deterritorialisiert werden“, sagt Haliti. Die Grenzen sollen in dieser aussagekräftigen Installation allmählich verschwimmen.
Angesichts des sich auf der Balkanroute derzeit abspielenden Flüchtlingsdramas mit den Stacheldrahtzäunen in Ungarn ist ihr ein Kunstwerk von beklemmender Aktualität gelungen.

Flaka Haliti, Speculating on the Blue, Sand, Metal, Light, 2015




Der Flug des Phoenix


Im Zusammenhang mit dem China-Pavillon auf dem Arsenale-Gelände zeigt der chinesische Künstler Xu Bing riesenhafte Vögel. Sie sind aus Bauabfällen geformt, die chinesische Wanderarbeiter zurückgelassen haben. Die Skulpturen wiegen rund zwölf Tonnen. Enzewor, der von der tatsächlichen Größe der Skulpturen überrascht war, hatte zunächst Schwierigkeiten die Exponate unterzubringen. Schließlich wurden sie in den beiden Werftbecken des Arsenale aufgehängt. Ein suboptimaler Ort. Durch das gleißende Gegenlicht der Sonne kann man die Riesenvögel teilweise nur als dunkle Silhouette ohne die feinen Strukturen wahrnehmen. Außerdem hängen die Exponate zu weit entfernt vom Betrachter, so dass man die komplexe Materialfiligranität nicht detailliert erfassen kann. Die beiden Riesenvögel hätten in einer geschlossenen Halle hängen müssen, um ihre gigantische aber auch filigrane Wirkung voll zu entfalten.
Xu Bing ist ein chinesischer Konzeptkünstler, der vor allem mit seinen Werken in den Bereichen Druckgrafik und Kalligrafie, aber auch mit Installationen bekannt wurde. Er ist Vizepräsident der Zentralen Hochschule der Künste in Peking. Seine Installation Book from the Sky gilt als ein Hauptwerk zeitgenössischer chinesischer Kunst.


Fäden im Labyrinth


Enwezor hat der Ausstellung ein globales Themna gegeben, das sehr komplex präsentiert wird. Um Aspekte auszusparen oder auszuwählen oder um künstlerische Ansätze zu verdeutlichen oder zu interpretieren, bietet er dem Besucher sogenannte Filter an. Einer dieser Filter Liveness: On epic duration. Für Enwezor ist für Liveness die Beschäftigung mit der menschlichen Stimme wichtig.

Musik muss dabei sein


Es gibt viele Liedtexte und Lieder zu sehen und zu hören aber auch viele ausgestellte Musikinstrumente. Die Installation Staged: Three Dences bezieht sich auf Jason Moran. Er ist ein US-amerikanischer Jazz-Pianist.

Bild rechts oben: Jason Moran, Staged: Three Dences, 2015
Bild unten: Tan Dun, Living in Future, Visual Music & Performance


So erforscht Jeremy Dellers Factory Songs der britischen Arbeiterklasse, die er in einer Musikbox zusammengestellt hat. Aus der Music-Box, die in Betrieb ist, erschallen aber keine Arbeiterlieder, sondern nur Fabrikgeräusche. Das Exponat ist allerdings in den Giardini zu finden.


Ein weiterer Filter ist ist die Live-Lesung aus dem Kapital von Karl Marx. Mit der Wiederbelebung dieses berühmten Standardwerks zur Politischen Ökonomie unterstreicht Enwezor den politischen Anspruch der von ihm kuratierten Ausstellungen. Viele Künstler haben sich direkt mit dem Kapital 
auseinandergesetzt. In abgewandelter Form auch die Künstlerin Natalya Pershina - Yakimanskaya.

Putin und die Kleidung der Demonstranten -  Politische Statements


Bild oben links: Gluklya/Natalia Pershina Yakimanskaya, Clothes for the demonstration against false election of Vladimir Putin, 2011-2015
Bild unten: Barthélémy Toguo, Detailansicht Urban Requiem
Bild oben rechts: Kunstmarktkritische Installation, die den Zusammenhang zwischen Geld und Kunst aufzeigen soll. Im Hintergrund die Namen großer Museen, im Vordergrund ein aus gestapelten Katalogen gebildetes Viereck, in dessen Mitte Geldscheine liegen.

Bei der Künstlerin Natalya Pershina - Yakimanskaya - besser bekannt als Gluklya sind Kleidungsstücke eine Form der nonverbalen Kommunikation. Eine bestimmte Art von Kleidung kann dazu verwendet werden, um lautlos die Geschichte unseres Lebens zu erzählen und sie kann sogar als politische Aussage verwendet werden. Wie ein Banner um zu protestieren und unsere Stimme zu erheben. Mit ihrer Präsentation stellt sie die Legitimität von Putins Wiederwahl in Frage. Zugleich thematisiert sie staatliche Zensur und Repression. Dadurch wird es für die Künstlerin und Feministin gefährlich und kompliziert mit ihrer künstlerischen Arbeit Gehör zu finden.



Für Toguo war die Skulptur das geeignete Medium, um seine Botschaften in Form von Slogans zu drängenden politischen, sozialen und Mißständen aus allen Regionen der Welt darzustellen. Urban Requiem mahnt und gedenkt der Menschen, die Unrecht und Diskriminierung erleiden müssen. Mit seinen Druckstempeln in Stahlregalen und den Papierprints an der Wand führt er die Probleme und Perspektiven der Welt innerhalb eines einzigen und universalen Raums zusammen.


Überraschende Beziehungen


Beim Biennale - Besuch hat sich für mich noch ein eigener visueller Filter ergeben. Mir sind bei den verschiedenen Exponaten und Präsentationen im Arsenale und den Giardini überraschende Querverbindungen und Beziehungen aufgefallen, die ich am Beispiel von Grosses bereits erwähntem Werk Untitled Trumpet aufzeigen möchte.

Raumgreifende Farbe als Gestaltungsidee findet sich nicht nur bei Katharina Grosse, sondern auch bei Jeremy Deller (oben links) und Ivan Grubanov (oben rechts).
Grubanov hat auf den Boden ausgeblutete Fahnen verstreut. Er hat die Flaggen von verschwundenen Staaten gesammelt, mit Lösungsmittel behandelt und so lange über die Bodenplatten gerieben, bis sie dort ihre Spuren hinterließen. Auch das ist ein Ansatz zur Freiheit der Farbe als künstlerisches Gestaltungsmittel. Im Gegensatz zu Grosse, die inhaltliche Statements zu ihren Werken ablehnt, wird hier eine Aussage angeboten: United Dead Nations.
Jeremy Deller ist ein britischer Künstler, der mit dem Turner Prize ausgezeichnet wurde.Die Wand vor der Music-Box in der nur scheinbar seine Factory Songs enthalten sind, hat er mit den Farben des Abendrots besprüht, passend zum ironischen Slogan Hello, today you have day off.
Die Arbeiten von Deller und Grubanov sind allerdings in den Giardini zu finden.

Was bleibt haften? Fazit | Arsenale


Die Ausstellungsinszenierung vom Eröffnungsraum bis zu Grosses Farbinsel war beeindruckend. Der düstere Auftakt steigerte sich in diesem Ausstellungsabschnitt von Raum zu Raum und eine für die zeitgenössische Lebenswelt charakteristische Atmosphäre von Unbehagen und Beklommenheit wird erzeugt. Danach wechseln die Themen in bunter Folge und mit wechselnder inhaltlicher Gewichtung. Der Zusammenhang zur Lage der Dinge geht zunehmend verloren. Neben den soeben genannten Highlights steht zum Beispiel Steve McQueens eindrucksvolle aktuelle Videoinstallation Ashes über das tragische Schicksal eines jungen Fischers im Kontrast zu einer Abfolge von relativ belanglosen und inhaltsneutralen Exponaten, Installationen und Performances. Hier hilft nur scannen und weitergehen. Die Highlights wurden für mich überraschenderweise durch die Malerei gesetzt. Katharina Grosse mit ihrer Freiheit der Farbe im Mittelteil und der Altmeister Georg Baselitz als fulminanter Schlusspunkt am Ende der Arsenale-Flucht.
Viele Kritiker behaupten, dass die große Ausstellung im Arsenale den Besucher förmlich erschlägt.
Es sei ein visuelles Trommelfeuer. Kaum etwas bleibt länger im Gedächtnis. Diese Kritik kann ich so nicht nachvollziehen.
Die Ausstellungsinszenierung enthält neben viel Belanglosigkeit, Verlegenheitskunst und Inhaltsleere sehr wohl eine Reihe von Werken, die einen künstlerischen Ausdruck zur Lage der Dinge finden und dem Betrachter Erkenntnismomente bescheren. Ein visuelles Trommelfeuer sieht anders aus. Ich hätte mir durchgehend mehr künstlerisches Trommelfeuer gewünscht. Das hat noch keiner Ausstellung und vor allem keinem Besucher geschadet.
All the World´s Futures | 56. Biennale di Venezia

09. Mai bis zum 22. November 2015

Über Okwui Enwezor

Okwui Enwezor ist ein Kurator und Autor. Der gebürtige Nigerianer hat fünf Großausstellungen auf drei Kontinenten, darunter die DOCUMENTA 11 in Kassel, verantwortet. In Venedig ist er verantwortlich für die große Ausstellung im Zentralpavillon in den Giardini und den Arsenale-Hallen. Seit Oktober 2011 ist er Direktor des Hauses der Kunst, München.

Goldene Löwen der 56. Kunstbiennale in Venedig

Die 56. Kunstbiennale in Venedig zeichnet den armenischen Pavillon als besten nationalen Beitrag aus. Den Preis der besten Künstlerin nimmt Adrian Piper mit nach Berlin

Abseits der zentralen Ausstellungsorte der Biennale, draußen auf der Insel San Lazzaro, dort wo ein Mechitaristenkloster sich seit bald 300 Jahren um die armenische Sprache und Kultur verdient macht, ist der nationale Beitrag Armeniens zur Biennale eingerichtet und erinnert an den Völkermord vor 100 Jahren.


Die 1948 in New York geborene Konzeptkünstlerin, Adrian Piper, lebt seit 2005 in Berlin. Nach Ansicht der Jury ist Piper eine Pionierin, die die Konzeptkunst um subjektive Aspekte erweitert habe.

Sämtliche Fotos: Fred Tille
Obwohl meine Fotos nur allgemeine Ausstellungsansichten ohne explizite, detaillierte Werkfotos zeigen, bitte ich die Urheberrechte der Künstler an ihren Werken zu beachten.