Privater Kunstblog zum Thema:

Künstlerisches Handeln in Zeiten globaler Umbrüche


Die Welt von heute scheint aus den Fugen geraten. Sie ist durch große Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Fragilität, Krieg und Flucht, Terror und Gewalt geprägt. Damit ist die Entwicklung unserer zukünftigen Lebenswelten wieder zu einem bedeutsamen Schwerpunkt in der Kunst geworden. Auch die Erkenntnisse und Prognosen der Techniksoziologie und der Zukunftsphilosophie werden zunehmend als Gegenstand der Kunst entdeckt. Die bildende Kunst, das Theater, die Literatur und der Film reagieren darauf auf unterschiedliche Art und Weise. Mich beschäftigt die Frage, wie kann sich der Künstler, der ja Teil dieser Entwicklungen ist, den sich daraus ergebenden existentiellen Herausforderungen sinnvoll nähern? In diesem Zusammenhang möchte ich meine Bilder aus der Zeit um 5 nach 12 in lockerer Folge vorstellen. Texte zu den globalen Auswirkungen des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ergänzen diese bildlichen Darstellungen. Über Reaktionen von Künstlern, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen, würde ich mich freuen.


Donnerstag, 26. Oktober 2017

Herrliches Desaster | Jonas Burgert in Berlin

ZEITLAICH ist der Titel des wohl zur Zeit größten Bildes von Berlin, das Jonas Burgert gemalt hat. Malerei auf 22 Metern Länge und 6 Metern Breite. Damit hatte er den Coup des Gallery Weekends 2017 in Berlin gelandet.



Anlässlich der Vernissage in der Blain/Southern Gallery am 28. April 2017 und in der Vorberichterstattung der Presse fragten sich die Kunstinteressierten in erster Linie:
Wo hat er bloß angefangen und wie hat er dieses Riesenformat technisch bewältigt?
Hierauf gibt der Künstler die eigentlich nicht überraschende Antwort: 
"Ein Bild dieser Größe zu machen, war immer schon mein Traum."

Zur Veranschaulichung der technischen Umsetzung gibt es auf YouTube ein sehr gutes Video Time Lapse, das Burgert in seinem Studio während des Entstehungsprozesses von ZEITLAICH zeigt.

YouTube Videos sind in meinem Blog nicht eingebunden. Stattdessen habe ich ein Vorschaubild eingefügt, hinter dem ein Link zum YouTube-Video liegt. Wenn ihr zur Aktivierung auf das Vorschaubild klickt, verlasst ihr meine Website und werdet zum Portal YouTube (www.youtube.com)weitergeleitet. Trotz dieser datenschutzfreundlichen Einbindung werden von YouTube Daten übermittelt. Eine eindeutige Beurteilung des genauen Umfangs der Datenverarbeitung durch Google lässt sich nicht vornehmen. Bitte beachtet dafür die Datenschutzerklärung von YouTube  bzw. Google. Mit dem Klick auf das Vorschaubild erklärt Ihr Euer Einverständnis zum Anzeigen externer Inhalte.




Herrliches Desaster


Die viel wichtigere Frage, warum und mit welchem Inhalt Burgert so ein gewaltiges Bild machen wollte, trat leider zunächst total in den Hintergrund.
Zu seinen inhaltlichen Beweggründen erklärt der Künstler in einem Gespräch mit Craig Burnett, dem Director of Exhibitions von Blain/Southern: 

Wir wissen überhaupt nicht, wer wir sind. Damit schlagen wir uns ständig herum und erfinden tausend Religionen, die uns dann doch nicht weiterhelfen, an einem Ort führen wir Kriege, an einem anderen machen wir Liebe und wollen die Intensität des Gefühls erleben. Und dieses herrliche Desaster, das wir mit alldem erzeugen, ist etwas, das wir nicht einfach ignorieren können. Von daher habe ich diese Idee einer Zuspitzung von überbordendem, wunderbarem Blödsinn. (1)

Ausstellungsblick auf ZEITLAICH | Linker und mittlerer Bereich 

Ausstellungsblick auf ZEITLAICH | Rechte Seite
 


Menschenlandschaften in albtraumhafter Kulisse


Damit hat Burgert das zentrale Thema seiner Kunst beschrieben. In seiner Welt des herrlichen Desasters bewegen sich Figuren auf verschiedenen Ebenen. Sie gruppieren sich zu Menschenlandschaften in albtraumhafter Kulisse. 

Dabei arbeitet der Künstler mit schrillen Farben, die jedoch in der Tonalität sehr präzise aufeinander abgestimmt sind und die dem Betrachter entgegenspringen. Diese Form der Farbgebung ist mir sehr sympathisch, denn ich bevorzuge in meinen Bildern auch eine lebhafte Farbgebung. Sie haucht Burgerts Bildern Expressivität und Leben ein. Kurzum, in Burgerts großformatigen Bildern herrscht das Chaos. 

Seine Bildideen holt sich Burgert wie sehr viele Künstlerkollegen aus einem privaten Riesenarchiv an Fotos aus Zeitschriften und Zeitungen, in denen vor allem Menschen in verschiedenen Lebenssituationen dargestellt werden. Der Künstler sucht sich Anregungen aus dem herrlichen Desaster unserer realen Welt. Dabei geht es ihm aber nicht um naturalistische Darstellung, sondern um den Ausdruck und den psychischen Charakter der Figuren.

Der Künstler arbeitet mit schrillen Farben, die jedoch in der Tonalität sehr präzise aufeinander abgestimmt sind und die dem Betrachter entgegenspringen. 

ZEITLAICH und Der Triumph des Todes: Parallelen bei Burgert und Brueghel d.Ä. 


Aus dem bereits erwähnten Gespräch mit Craig Burnett möchte ich noch zwei interessante Gesichtspunkte hervorheben.

Dabei komme ich zunächst wieder auf das Format zurück. Burnett erwähnt das Gemälde Der Triumph des Todes von Brueghel d.Ä. In diesem Bild bringt er hunderte von Skeletten in dem vergleichsweise winzigen Format von 117 × 162 cm unter. 

Welch ein Gegensatz zu Burgert. Darauf kommt es mir aber nicht an. Jeder Künstler malt eben in dem Format, was ihm liegt und er für angemessen hält. Vielmehr geht es mir um den Inhalt von Brueghels Gemälde.

Der Triumph des Todes | Pieter Bruegel der Ältere, um 1562  | Öl auf Holz  | 117 × 162 cm | Museo del Prado, Madrid | Quelle: Wikipedia |  Gemeinfrei

Der Triumph des Todes ist ein Thema der europäischen Kulturgeschichte seit dem Mittelalter, vor allem in der Bildenden Kunst. Unter dem Eindruck der Pest, die ganze Städte Europas entvölkerte und die die Menschen in apokalyptische Angst versetzte, bearbeiteten viele Künstler dieses Thema. 

Auch Brueghel nahm den damaligen Zustand der Welt als Quelle für sein berühmtes Bild, das in drastischer Form zeigt, wie der Tod über Irdisches siegt. Er griff die Hilflosigkeit und Verzweiflung der Menschen auf und malte einen Totentanz, der sich zu einem grausamen Geschehen von Vernichtung, menschlicher Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit verdichtete. 

Zwar nicht wie bei Burgert mehr ironisch gebrochen als herrliches Desaster, aber in gewisser Weise auch als  ZEITLAICH des 16. Jahrhunderts.

ZEITLAICH und Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir? von Gauguin 


Der zweite Hinweis von Burnett bezieht sich auf Parallelen zu Gauguins berühmtem Großgemälde Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?
Auch Burgert stellt in seinem Werk die Frage „Wir wissen überhaupt nicht, wer wir sind.“

Burgert bejaht diese Parallele zu Gauguins friesartiger Komposition. Nach eigener Aussage liebt Burgert Gauguins Erfindungsreichtum in Formen und Farben und dessen Blick aufs Ganze.

Ich glaube, ich bin ein sehr abstrakter Maler. Ich denke vielleicht 70 Prozent der Zeit über die Komposition nach, und wie ich einen Ausgleich zwischen kalten und warmen Farben schaffen kann. Und von daher liebe ich Gauguin.“ (2)

Paul Gauguin | Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir? |1897
 oil on canvas |139.1 × 374.6 cm  | Museum of Fine Arts, Boston | Quelle: [Public domain], via Wikimedia Commons | United States public domain tag | Gemeinfrei
   


ZEITLAICH und die Beobachter


Gegenüber von dem Riesengemälde hat Burgert eine Reihe von Portraits gehängt. Ganzfiguren fast in Lebensgröße gemalt. Sie blicken nicht nur den Betrachter direkt, sondern auch das Geschehen auf ZEITLAICH gegenüber an. Sie sind die Beobachter.

Ganzfiguren fast in Lebensgröße gemalt

Riesengemälde mit  Reihe von Portraits gegenüber. Die Beobachter


Elf weitere Arbeiten im 2. Stock der Galerie


Im 2. Stock der Galerie werden elf weitere Arbeiten gezeigt. Hierzu empfehle ich die Blicke in die Ausstellung auf der Website von Blain/Southern


Von ZEITLAICH bis Raube | Rätselhafte Titel


Nicht nur ZEITLAICH ist ein eigenwilliger und etwas rätselhafter Titel. Die Laichzeit ist die Zeit der Eiablage bei Fischen und Amphibien. Oder der Song Laichzeit zum Thema Inzest der umstrittenen Musikgruppe Rammstein, die häufig sehr kontroverse, tabuisierte und schambesetzte Themen in ihrer Musik verarbeitet. 

Ob der Künstler diese Bedeutungsvarianten bei seiner Titelgebung im Sinn hatte, bleibt offen und damit der Phantasie des Betrachters überlassen. Ich sehe in ZEITLAICH die Darstellung eines desaströsen Weltenwandels, den ich allerdings nicht mit dem Attribut herrlich verbinden kann. Oder man nimmt den Titel einfach als vorgegebenes Kunstwort hin, ohne sich weiter darüber einen Kopf zu machen.

Auch die anderen Titel von Burgerts Bildern wie z.B. Mutsud, Nachtag, Blattschatt, Zweifang, ein Mut, die in der aktuellen Ausstellung gezeigt werden, lassen beim Betrachter interessante Interpretationsmöglichkeiten zu.

Deshalb ganz im Sinne von ZEITLAICH zum Abschluss ein Witz von Burgert, den er in einem Interview der Berliner Morgenpost (3) erzählt hat.

"Die Erde und ein anderer Planet treffen sich, fragt der Planet 'Und wie geht's so?' Die Erde antwortet: 'Nicht so gut, ich hab homo sapiens.' Darauf der andere Planet: 'Das geht vorbei'."

Jonas Burgert

Burgert, Jonas (*1969) lebt und arbeitet in Berlin.

Jonas Burgert studierte bis 1996 an der Akademie der Bildenden Künste in Berlin und absolvierte dort anschließend seinen Meisterschüler unter Professor Dieter Hacker.

Seit 1998 sind seine Arbeiten international in zahlreichen Gruppenausstellungen gezeigt worden.

Eingang zur Galerie Blain Southern


Blain|Southern
JONAS  BURGERT |ZEITLAICH 
29. April-29. Juli 2017
Berlin

Galerie Blain|Southern
Potsdamer Straße 77–87
10785 Berlin
+49 (0)30 6449 31510
berlin@blainsouthern.com

Quellen:
(1) und (2) Öffentlich in der Galerie ausliegendes Begleitmaterial zur Ausstellung. Jonas Burgert im Gespräch mit Craig Burnett, Blain|Southern
(3) Berliner Morgenpost, Eva Lindner 20.04.2012 
Sämtliche Fotos: Fred Tille mit Ausnahme der Foto-Einzelnachweise.
Obwohl meine Fotos nur allgemeine Ausstellungsansichten und keine expliziten, detaillierte Werkfotos zeigen, bitte ich die Urheberrechte des Künstlers, Jonas Burgert an seinen Werken zu beachten.

Courtesy of Galerie Blain|Southern