Privater Kunstblog zum Thema:

Künstlerisches Handeln in Zeiten globaler Umbrüche


Die Welt von heute scheint aus den Fugen geraten. Sie ist durch große Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Fragilität, Krieg und Flucht, Terror und Gewalt geprägt. Damit ist die Entwicklung unserer zukünftigen Lebenswelten wieder zu einem bedeutsamen Schwerpunkt in der Kunst geworden. Auch die Erkenntnisse und Prognosen der Techniksoziologie und der Zukunftsphilosophie werden zunehmend als Gegenstand der Kunst entdeckt. Die bildende Kunst, das Theater, die Literatur und der Film reagieren darauf auf unterschiedliche Art und Weise. Mich beschäftigt die Frage, wie kann sich der Künstler, der ja Teil dieser Entwicklungen ist, den sich daraus ergebenden existentiellen Herausforderungen sinnvoll nähern? In diesem Zusammenhang möchte ich meine Bilder aus der Zeit um 5 nach 12 in lockerer Folge vorstellen. Texte zu den globalen Auswirkungen des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ergänzen diese bildlichen Darstellungen. Über Reaktionen von Künstlern, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen, würde ich mich freuen.


Samstag, 28. Februar 2015

Transit – Anna Seghers im Deutschen Theater Berlin



Damals oder heute?


„Alle hatten nur einen einzigen Wunsch: abfahren. Alle hatten nur eine einzige Furcht: zurückbleiben. Fort, nur fort aus diesem zusammengebrochenen Land, fort aus diesem zusammengebrochenen Leben, fort von diesem Stern!“
Wann und von wem könnten diese Sätze geschrieben worden sein? Von einem verzweifelten syrischen Vater, der 2014 mit seiner Familie über das Mittelmeer aus dem Bürgerkriegsland fliehen muss? Oder von einem jungen Deutschen, der 1940 aus einem KZ entflohen ist und auf der Flucht vor den Nazis in Marseille strandet? Tatsächlich hat Anna Seghers diese Worte in ihrem Roman Transit niedergeschrieben. Seit Erscheinen des Romans in der deutschen Fassung 1948 sind 67 Jahre vergangen. Die elementaren Grundfragen, die in diesem Werk gestellt werden, sind jedoch hochaktuell.

  

„Ich möchte gern einmal alles erzählen, von Anfang an bis zu Ende.“ Transit – Der Roman von Anna Seghers


In ihrem Roman schildert Seghers das Schicksal von Flüchtlingen, die sich 1940/41 auf der Flucht vor den Nazis in Marseille darum bemühen, im Dickicht der Behörden und Vorschriften fristgemäß die Papiere für ihre Auswanderung nach Übersee zu bekommen. Anna Seghers lässt einen Ich-Erzähler, dessen Namen man nicht erfährt, einem stummen Zuhörer, den er in seine Lieblingspizzeria in Marseille einlädt, rückgreifend von seinen Erlebnissen berichten. Mit den Worten „Ich möchte gern einmal alles erzählen, von Anfang an bis zu Ende,“ leitet er seinen Monolog ein. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der sich nach seiner Flucht aus einem französischen Arbeitslager im von den Nazis besetzten Teil Frankreichs bis nach Marseille durchschlägt. Auf dem Weg dorthin hält er sich einige Zeit im ebenfalls unter Besatzungsstatus stehenden Paris auf. Dort bittet ihn ein ihm zufällig begegnender Bekannter um einen Gefallen: Er soll einen deutschen Schriftsteller namens Weidel aufsuchen und diesem einen Brief seiner Frau überreichen. Doch als er bei Weidel eintrifft, hat sich dieser in seinem Hotelzimmer bereits das Leben genommen und nur ein unveröffentlichtes Romanmanuskript und ein mexikanisches Visum zurückgelassen. Mit einem Pass auf den Namen Seidler und Papieren des Schriftstellers Weidel, flieht der junge Mann weiter nach Marseille. Dort begegnet er zufällig Weidels Ehefrau Marie, die auf ihren Mann wartet, der ihr die Ausreisedokumente bringen wollte. Sie will jedoch nicht mit Weidel, sondern mit ihrem Geliebten auswandern. Der Flüchtling aus Deutschland verliebt sich in Marie und verschweigt ihr den Tod ihres Mannes  Am Ende bleibt der namenlose Ich-Erzähler freiwillig im Land. Marie und ihr Geliebter reisen ab – doch ihr Schiff geht unter und sie kommen auf dem Weg in die erhoffte Freiheit ums Leben.



Ich-Erzähler und stummer Zuhörer: Transit in der Box des Deutschen Theaters Berlin


Am 27.September 2014 hatte die Theaterfassung von Seghers Roman Transit Premiere in der Box des Deutschen Theaters Berlin. In einem Jahr, in dem die Zahl der Mittelmeer-Flüchtlinge einen dramatischen Höchststand erreicht hat. Am 01. Januar 2015 habe ich mir die Theateraufführung, in der Thorsten Hierse den Ich-Erzähler spielt, angesehen. Die Rolle der Marie wird von Wiebke Mollenhauer gespielt. Tobias Vethake begleitete die Aufführung mit seiner Live-Musik. In der Inszenierung von Alexander Riemenschneider wird der Roman in dramaturgisch sinnvollen Auszügen textgetreu durch den Ich-Erzähler wiedergegeben. Der intensive Vortragsstil von Thorsten Hierse verleiht der Darstellung Authentizität und betont zugleich die Subjektivität der Perspektive. Eindringlich schildert er das Chaos, das Warten, die Hoffnung und die Verzweiflung der Flüchtenden – den menschenunwürdigen Transitzustand, der auch heute für Millionen von Menschen bittere Realität ist. Der Zuschauer kann sich in der Rolle des stummen Zuhörers im Roman identifizieren. Nach einer Weile glaubt man wirklich in der Marseiller Pizzeria zu sitzen. Wie im Roman der Leser wird im Theater der Zuschauer als Gegenüber behandelt, dem die Ereignisse als Dialog vorgetragen werden. Der literarische Effekt der Unmittelbarkeit und Anteilnahme, den Anna Seghers erreichen wollte, indem sie das Wort einem Ich-Erzähler überlässt, kommt auch auf der Bühne voll zur Geltung. Unwillkürlich tauchen bei der Schilderung des menschenunwürdigen Transitzustands im Kopf des Zuschauers die aktuellen Bilder von verzweifelten
Flüchtlingen auf, die in überfüllten Booten über das Mittelmeer nach Europa kommen wollen. Diese Aktualisierung findet allerdings nicht auf der Bühne statt. Nur im Programmheft vermittelt eine zitierte Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge einen Gegenwartsbezug.



Marseille im Sommer 1940. Lampedusa 2015.


Marseille im Sommer 1940. Lampedusa 2015. Damals wie heute stauen sich am Rande des Kontinents die Flüchtlingsströme. Tausende suchen 1940 einen Weg heraus aus Europa und hoffen verzweifelt eine der wenigen Passagen nach Übersee zu ergattern. Tausende Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsgebieten Afrikas und des nahen Ostens versuchen 2015 ebenso verzweifelt eine Passage über das Mittelmeer zu bekommen und suchen einen Weg hinein nach Europa.
Das Flüchtlingsdrama ist eines der brennendsten Themen für den alten Kontinent. Hunderttausende Menschen drängen nach Europa. Sie entfliehen dem Elend ihrer Heimat. Sie kommen aus Ländern wie Afghanistan, Eritrea, Libyen, Mali, Somalia oder Syrien, in denen Kriege toben und Gefahr für Leib und Leben droht. Europa ist für sie das Versprechen auf eine bessere Zukunft. Doch viele kommen im vermeintlichen Paradies Europa nie an. Die Fahrt über das Mittelmeer in überfüllten Barkassen endet häufig tödlich. Eine europäische Flüchtlingspolitik existiert nicht. Das wird deutlich, wenn Zuwanderer bewusst unregistriert von einem Land zum andern weitergeschoben werden. Welche Menschlichkeit zeigt eine Europäische Union, die nichts Fundamentales gegen diese zynische Kriminalität der Schlepper auf Europas Straßen und Meeren unternimmt, die täglich Menschen das Leben kostet?

Das Mittelmeer ist die tödlichste Route der Welt für Flüchtlinge


 „Mehr als 207.000 Menschen machten sich in diesem Jahr auf den Weg nach Europa, das waren fast dreimal so viele wie im bisherigen Rekordjahr 2011. Bei der gefährlichen Überfahrt ertranken oder verdursteten 3419 Menschen, wie das Flüchtlingshilfswerk UNHCR am Mittwoch mitteilte. Das Mittelmeer sei damit zur "tödlichsten Flüchtlingsroute der Welt" geworden.
Angesichts der dramatischen Entwicklung rief UN-Flüchtlingshochkommissar António Guterres die Regierungen der EU-Länder zum Kurswechsel auf. Für viele sei der Schutz der eigenen Grenzen wichtiger geworden als das Retten von Menschenleben. Die nationale Politik dürfe nicht dazu führen, dass Menschenleben zu "Kollateralschäden" würden, sagte Guterres. Dies sei umso wichtiger, da so viele Menschen zurzeit vor Kriegen fliehen müssten. Die allermeisten Flüchtlinge steuerten Italien und Malta an, wie das UNHCR weiter mitteilte. Die Behörden zählten demnach unter anderem 60.000 Syrer und 34.500 Menschen aus Eritrea. Erst am Mittwoch wurden wieder 400 Bootsflüchtlinge – die meisten von ihnen aus Syrien – von einem spanischen und einem isländischen Schiff aus dem Mittelmeer geborgen.“ (Quelle: Berliner Morgenpost / 11.12.2014)


"Das Theater muss die Fragen stellen. Es muss sagen, was Sache ist"


Mit diesen Worten bezog die Leiterin des Maxim Gorki Theaters Berlin in einem Interview der "Berliner Zeitung" Stellung und betonte damit die Rolle des politischen Theaters. "Menschen sterben vor den Grenzen der Europäischen Union. Die Zivilgesellschaft muss einschreiten gegen die Europa einmauernden Eliten", sagte die 1969 in der Türkei geborene Theatermacherin, Shermin Langhoff.

Eine gewisse Aufnahmebereitschaft ist notwendig


Shermin Langhoff fährt fort: "Wir hatten einmal ein Asylrecht, weil Deutschland wusste, dass es Zeiten gibt, in denen Menschen darauf angewiesen sind, irgendwohin fliehen zu können... Heute werden an Europas Grenzen Kriege geführt. Es gibt Menschen, die vor ihnen fliehen. Wir stellen uns hin und knallen ihnen die Tür vor der Nase zu, schicken sie zurück in den Tod." Ihrer Meinung nach sollte das Theater versuchen, die aktuelle Lage dem Publikum so klar wie möglich vor Augen zu führen. "Wir halten, das ist gute, alte Theatertradition, der Gesellschaft einen Spiegel vor."

Zum Schluss möchte ich noch einmal Anna Seghers Roman zu Wort kommen lassen: „Was konnte es einem Riesenvolk schaden, wenn einige dieser geretteten Seelen zu ihm stießen, würdig, halbwürdig, unwürdig, was konnte es einem großen Volk schaden?“ (Quelle: Aufbau Taschenbuch, 2013, S. 196)


Fotos und Illustrationen: Fred Tille

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