Privater Kunstblog zum Thema:

Künstlerisches Handeln in Zeiten globaler Umbrüche


Die Welt von heute scheint aus den Fugen geraten. Sie ist durch große Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Fragilität, Krieg und Flucht, Terror und Gewalt geprägt. Damit ist die Entwicklung unserer zukünftigen Lebenswelten wieder zu einem bedeutsamen Schwerpunkt in der Kunst geworden. Auch die Erkenntnisse und Prognosen der Techniksoziologie und der Zukunftsphilosophie werden zunehmend als Gegenstand der Kunst entdeckt. Die bildende Kunst, das Theater, die Literatur und der Film reagieren darauf auf unterschiedliche Art und Weise. Mich beschäftigt die Frage, wie kann sich der Künstler, der ja Teil dieser Entwicklungen ist, den sich daraus ergebenden existentiellen Herausforderungen sinnvoll nähern? In diesem Zusammenhang möchte ich meine Bilder aus der Zeit um 5 nach 12 in lockerer Folge vorstellen. Texte zu den globalen Auswirkungen des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ergänzen diese bildlichen Darstellungen. Über Reaktionen von Künstlern, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen, würde ich mich freuen.


Sonntag, 29. Juni 2014

30 Jahre 1984 | George Orwell lässt grüßen



Vernetzt | Foto: Dejo Denzer | Montage: Fred Tille



 

Der „Große Bruder“



Ridley Scott, der "Alien"-Regisseur, drehte für Apple/Macintosh einen legendären Werbespot mit dem Titel 1984. Der Film zeigt eine in diffuses graues Licht getauchte düstere Welt, in der ausdruckslose Arbeiter durch einen langen Gang im Gleichschritt eine große Halle mit einem riesigen Bildschirm betreten. Dort spricht der „Große Bruder“ zu ihnen und preist die Kraft der Vereinigung der Gedanken an. Ebenfalls zu sehen ist eine junge sportlich gekleidete Frau, die auf den Bildschirm zurennt. In der Hand trägt sie einen großen Vorschlaghammer; sie wird von martialisch ausgerüsteten Polizisten verfolgt. Die Frau holt zum Befreiungsschlag aus und schleudert ihren Hammer gegen den Schirm, der zerbricht und der „Große Bruder“ verschwindet abrupt. Die Zuschauer in der Halle werden durch die Implosion mit grellem Licht angestrahlt. Anfang 1984 wurde dieser Spot anlässlich der Markteinführung des ersten Personal Computers von Macintosh öffentlich gezeigt.

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Auch wenn die massenhafte Verbreitung des Personal Computers erst elf Jahre später mit der Einführung von Microsofts Windows ’95 einsetzte, trug der Macintosh wesentlich dazu bei, dass wir heute alle Computer nutzen und mit unseren Spuren im Datennetz den Nährboden für Orwell’sche Zustände legen. Google zum Beispiel weiss über jeden digital aktiven Nutzer mehr, als sich George Orwell in seinen kühnsten Visionen je vorzustellen wagte. Google will in all unserer Lebensbereiche eindringen, Daten sammeln. Google plant die total vernetzte Welt, sammelt Informationen über unser Leben und schafft immer perfektere und vollständigere digitale Avatare. Diese Auswirkungen der digitalen Revolution konnte George Orwell jedoch nicht voraussehen.


1984 – Der Roman, der nie vergeht



Mit 1984 schuf George Orwell einen dystopischen Roman in dem ein totalitärer Präventions- und Überwachungsstaat dargestellt wird. Protagonist der Handlung ist Winston Smith, ein einfaches Mitglied der diktatorisch herrschenden Staatspartei, der sich der allgegenwärtigen Überwachung zum Trotz seine Privatsphäre sichern will und dadurch in Konflikt mit dem System gerät, das ihn einer Gehirnwäsche unterzieht. Orwell stellte das Buch Ende 1948 fertig. Der Titel enthält den Zahlendreher des Jahres 1948 zu 1984 als Anspielung auf eine zwar damals noch fern erscheinende, aber doch eng mit der damaligen Gegenwart verknüpfte Zukunft. Seit dem Jahr 1984 sind dreißig Jahre vergangen und der Roman ist zur Metapher geworden, wenn es darum geht, staatliche Überwachungsmaßnahmen kritisch zu hinterfragen oder auf Tendenzen zu einem Überwachungsstaat hinzuweisen. Wenn die Begriffe "Big Brother is watching you", "1984", oder der Name „Orwell“ fallen, weiss jeder, was gemeint ist. Und tatsächlich: Seit der NSA Affäre und seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum „Recht auf Vergessen“ hat das Sinnbild vom „Großen Bruder“, das George Orwell in seinem Roman „1984“ entwarf, Hochkonjunktur. 

 
Abgerollt | Foto: Fred Tille

Anfang der 90iger Jahre sahen viele Medientheoretiker die fortschreitende digitale Vernetzung durch das Internet voller Optimismus als eine völlig neue globale, freiheitliche und demokratische Perspektive für die Weltgesellschaft. In der Gegenwart hat dieser Optimismus einen starken Dämpfer erlitten. Heute „registrieren wir eine monopolartige und weltöffentliche Bewirtschaftung privater Daten durch einen neuen informationstechnologischen Komplex, bestehend aus sämtlichen Geheimdiensten der Welt im Zusammenspiel mit einigen wenigen marktbeherrschenden Wirtschaftsunternehmen.“ (Quelle: Berliner Morgenpost vom 14. Mai 2014)

Geheimnisse werden Lügen, Privatsphäre wird Erlebnisdiebstahl



Mit "The Circle" hat der Schriftsteller Dave Eggers 2013 das "1984" fürs Internetzeitalter geschrieben. Ein freundlicher Internetkonzern namens „The Circle“ begeistert seine Nutzer - und erklärt eines Tages Privatsphäre zum Diebstahl und Geheimnisse zu Lügen. Medizinische Sonden stecken in allen Körpern, Bildschirme an Handgelenken, Milliarden von Kameras wurden in der Welt verteilt, an jede Person und auf jede gerichtet. Dave Eggers Roman ist eine düstere Warnung vor der Allmacht der Suchmaschinen und Anbieter sozialer Netzwerke.

Nachschub | Foto: Fred Tille
 
Dreißig Jahre nach 1984 ist Big Brother überall. Big Brother ist in gewisser Weise jeder von uns. Der Möglichkeit nach präsentiert sich jeder selbst und in dem Maße, wie er das möchte. Die Bandbreite reicht von der 24-stündigen Webcam-Übertragung sozialer Interaktionen, der freiwilligen totalen Preisgabe des Privaten bis zu Menschen, deren ganzer Stolz darin besteht, keinen einzigen Eintrag im Internet hinterlassen zu haben. Normal ist dabei zur Zeit immer noch ein relativ hohes Maß an freiwilliger öffentlicher Selbstdarstellung. Bei Facebook und Co. posten unbedarfte oder ignorante User oft unreflektiert ihre aktuellen Befindlichkeiten, Aufenthaltsorte, persönlichen Vorlieben und zukünftige Aktivitäten in aller Ausführlichkeit. Die Datenflut braucht von den Internetgiganten nur noch abgesaugt zu werden. Noch fragen zu wenige, wie groß der Verlust an digitaler Selbstbestimmung und der persönliche Schaden sein könnten, den ein unbescholtener Internetnutzer durch diese Sammelwut erleiden könnte.


Im Dickicht gefangen?



Angesichts dieser aktuellen Entwicklungen blickten weltweit viele Menschen auf den diesjährigen Internet- und Medienkongress re:publica in Berlin. Welche Fragen würden dort gestellt und welche Antworten würden gegeben werden? Die Veranstalter wählten deshalb das Motto INTO THE WILD und führten dazu auf ihrer Homepage aus, dass dieser Ansatz den Horizont für verschiedene Blickwinkel öffnen soll, um das Internet und die Gesellschaft der nahen Zukunft zu verstehen und zu verbessern: „Wenn Algorithmen uns zu gläsernen, kontrollierbaren weil berechenbaren Menschen machen, müssen wir vielleicht unberechenbarer werden? Die Auflösung von Strukturen, das Verlassen der populären Trampelpfade hinein ins Chaos, in die Irrationalität, in die Wildnis eben, könnten Strategien sein. Aber wie finden wir uns dann noch zurecht, wie finden wir zueinander? Wie flüstert man im Netz und vor allem: mit wem? Wird nicht, wer ein freies, unkontrolliertes Netz fordert, umso mehr kontrollieren müssen, wer dabei sein darf und wer draußen bleiben muss?“

Foto: Website re-publica | Banner zur freien Verwendung in Blogs

Das Festival der freien Netzkultur wirbt mit einem Design, das einen wuchernden Wald in verschiedenen Variationen zeigt. Für die Veranstaltungsräume haben die Kongress-Designer eine Stimmung entworfen, in der sich rätselhafte Organismen durch den Wald bewegen. Die digitale Welt ist demnach unübersichtlich geworden. Sie bietet Information, Abenteuer und Erholung, aber auch Gefahren. Die Dramaturgie der re:publica ist wie eine Lichtung angelegt, auf der sich Wanderer versammeln, um sich zu orientieren. Ein heller Ort in einer bedrohlichen Welt.

Die Gedanken sind frei



Die ungehemmte Expansion der Internetriesen stößt bisher auf wenig Widerstand. Das liegt auch an den angebotenen kostenlosen Dienstleistungen. Auf schnelle Suchanfragen, Videos, E-Mails und soziale Netzwerke kann und will niemand mehr verzichten. Erst allmählich dämmert es immer mehr Nutzern, was die systematische Erfassung und Verknüpfung der persönlichen Daten und der Bewegungsprofile im Internet für weit reichende Konsequenzen haben kann. Der Ruf nach einer „Bill of Digital Rights“ wird besonders in Europa immer lauter. Entschlossene und transparente Netzpolitik, die Rahmenbedingungen schafft und digitale Selbstbestimmung durch mündige und auch technisch versierte Internet-User wird bei vielen Menschen weltweit zum Leitbild. Die Chancen und Vorteile der digitalen Welt sinnvoll nutzen und die Gefahren der Untiefen des Internets erkennen können. Nur so lässt sich das Fortschrittsdilemma zwischen Ausbau der digitalen Wirtschaft und Wahrung der bürgerlichen Freiheitsrechte lösen. 

Reserve | Foto: Fred Tille
 
Eine der zentralen Botschaften von George Orwell richtete sich gegen Staatsformen generell, die die innere und äußere Freiheit der Menschen einschränken. Seine Botschaft ist ein leidenschaftliches Bekenntnis zur individuellen Freiheit. 
„Es sind weniger die Institutionen als die Menschen, die Anlass zur Hoffnung sind. Sie zeigen und artikulieren auch politisch ihr Bedürfnis nach Privatsphäre. Solange dieses Bedürfnis in unserer Gesellschaft lebendig ist, besteht kein Grund zur Resignation. Die Botschaft von Orwell ist: Was Techniken noch nicht überwachen können, das sind die Gedanken der Menschen (…). Aus dem gleichen Grund wird es auch in Zukunft weiterhin eine Nachfrage nach Privatheit und nach persönlicher Freiheit geben. Und erst Privatheit und Freiheit machen unser Leben wirklich lebenswert und würdevoll (Quelle: Technik, Terror, Transparenz - Stimmen Orwells Visionen? Dr. Thilo Weichert, Landesbeauftragter für den Datenschutz Schleswig-Holstein, Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD) in Kiel, 2004).

Von Orwells „1984“ zu Apples „1984“



Zum Schluss spanne ich noch einmal den Bogen von Orwells „1984“ zu Apples „1984“. Am Ende des an den berühmten Roman von George Orwell angelehnten Spots von Regisseur Ridley Scott verkündet die Stimme eines Sprechers aus dem Off:

“On January 24th, Apple Computer will introduce Macintosh.
And you’ll see why 1984 won’t be like ‘1984’.”


„Am 24. Januar wird Apple Computer „Macintosh“ vorstellen.
Und du wirst sehen, warum 1984 nicht wie ‚1984‘ sein wird.“


Heute-dreißig Jahre später-sollten wir besser ein Fragezeichen hinter den letzten Satz setzen.

Weiterführende Links:

Der Werbefilm von Ridley Scott 
Über den Roman 1984
Über den Roman "The Circle" 
INTO THE WILD | re-publica 2014